Im vergangenen Jahr ereigneten sich über 1.000 antisemitische Vorfälle in Berlin. Das geht aus dem aktuellen Bericht der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin, kurz RIAS, hervor. Wie die Pandemie zur Gelegenheitsstruktur für antisemitische Äußerungen wurde und was das für die Betroffenen heißt, beantwortet Alexander Rasumny, Mitarbeiter im Meldesystem der RIAS Berlin, im Interview mit UnAuf.
Als Alexander Rasumny im März 2017 als Projektreferent bei der RIAS anfing, baute die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus gerade zusammen mit anderen jüdischen und nichtjüdischen Organisationen ein berlinweites Meldenetzwerk auf. Alexander Rasumny sieht es als eine Qualität seiner Jobs an, die erste Anlaufstelle für Betroffene zu sein. Für einen dringenden Anruf unterbricht er das Interview – dass jüdische Personen Opfer von antisemitischen Angriffen werden, schreibt sich auch in seinen Alltag ein.
UnAuf: Etwa ein Drittel der Deutschen scheinen für Verschwörungsmythen offen zu sein, so das Ergebnis einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung vom Sommer 2020. Wie weit ist es von dort zu antisemitischen Vorfällen beziehungsweise Übergriffen?
Alexander Rasumny: Zunächst einmal muss man differenzieren, dass nicht alle Verschwörungsmythen antisemitisch sind und sich Antisemitismus nicht immer in Form von Verschwörungsmythen zeigt. Allerdings kann der Antisemitismus auch als ein einziges Verschwörungsmythos gelesen werden, denn er greift oft auf die Vorstellungen einer jüdischen Weltherrschaft beziehungsweise einer übermächtigen jüdischen Verschwörung zurück.
Um auf die Frage zurückzukommen: Der Schritt von einem nicht antisemitischen Verschwörungsdenken hin zum antisemitischen ist sehr klein und wird von vielen gemacht. Wenn Menschen in Verschwörungsmythen abdriften, nimmt ihre Weltvorstellung zwangsläufig einen strukturell antisemitischen Charakter an, und häufig werden die Feindbilder irgendwann als jüdisch codiert. Da eine solche Person Jüd*innen als das absolute Böse ansieht, sind in ihren Augen alle Wege und Mittel, dagegen vorzugehen, legitimiert.
UnAuf: 58 Versammlungen mit antisemitischen Inhalten dokumentierte RIAS Berlin 2020, 42 davon waren Versammlungen gegen die Corona-Maßnahmen. Nun laufen auf solchen Demonstrationen Rechtsradikale neben besorgten und unzufriedenen Bürger*innen. Wann ist der Antisemitismus in die Mitte der Gesellschaft zurückgekehrt?
Rasumny: Der Antisemitismus war nie weg. Es gab etliche Zäsuren in den vergangenen Jahren, ob 2020 mit den Judensternen auf Corona-Demonstrationen, 2018 die Vorfälle zur Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem, 2014 der offene Antisemitismus bei Protesten gegen Israel oder die Beschneidungsdebatte im Jahr 2012. Es zeigt sich eine Kontinuität – Antisemitismus war immer da. In der Nachkriegszeit wurden antisemitische Ansichten nach und nach verpönter, damit sind der latente Antisemitismus und das Bedürfnis, sich antisemitisch zu äußern, aber nicht verschwunden. Es finden sich immer neue Wege, diese Judenfeindlichkeit inzwischen auch zunehmend offener auszudrücken.
UnAuf: Die Auseinandersetzung mit der Pandemie und den staatlichen Eindämmungsmaßnahmen stellt sich als „Gelegenheitsstruktur für die Artikulation antisemitischer Verschwörungsmythen“ heraus. Was haben die Herausforderungen unserer Zeit mit früheren Gelegenheitsstrukturen gemein?
Rasumny: In den vergangenen Jahren bot das Thema Israel viele Gelegenheiten, von Dämonisierungen über Delegitimierungen hinzu doppelten Standards. Gerade 2018 hatte jeder zweite antisemitische Vorfall einen Bezug zu Israel. 2020 war das Thema in den Nachrichten nicht mehr so präsent, Verschwörungsmythen rückten in den Vordergrund. Es sind nicht die Pandemie oder das wahre beziehungsweise vermeintliche Handeln eines Staates Israel, die Antisemitismus erzeugen. Sie werden lediglich zum Anlass genommen.
UnAuf: Antisemitismus trat 2020 häufig verschränkt mit anderen Ideologien wie zum Beispiel Rassismus auf, so die Feststellung der RIAS Berlin. Ist hier abzulesen, dass sich die Gesellschaft verroht und sich die Grenzen des Sagbaren verschieben?
Rasumny: Seit über einem Jahr stören sich die Leute auf den Corona-Demonstrationen weder an den schwarz-weiß-roten Reichsflaggen noch an den Judensternen. Die Menschen aus der Mitte der Gesellschaft laufen einfach mit, was einen normalisierenden Effekt auf Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus hat. Ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft radikalisiert sich, weil er keine Sanktionen zu erwarten hat. Das Verhalten der Corona-Demonstrant*innen wird innerhalb der Demos nicht problematisiert. Die geschrienen Parolen werden in der öffentlichen Debatte dazu noch legitimiert – vor kurzem erst in der Rede von einer gelenkten Presse während der #allesdichtmachen-Kampagne.
UnAuf: 2020 kam es weniger zu Angriffen und Bedrohungen, gezielte Sachbeschädigungen und verletzendes Verhalten standen eher an der Tagesordnung. Weil solche „Nichtigkeiten“ heutzutage als Kavaliersdelikte abgetan werden?
Rasumny: Dass sich die Anzahl der Angriffe verringert hat, ist eine direkte Folge des Lockdowns. Wenn Menschen weniger unterwegs sind und mehr zu Hause sitzen, verringert sich die Anzahl der potenziellen Interaktionen zwischen Täter*innen und Betroffenen. Es kommt zu weniger Angriffen, es werden andere Gelegenheiten gesucht, um Antisemitismus zum Ausdruck zu bringen. Gleichzeitig ist der Anstieg an Vorfällen verletzenden Verhaltens ein Spiegel der Debatten im Netz.
UnAuf: Fanden die meisten Angriffe 2019 noch auf der Straße oder im ÖPNV statt, verlagerte sich 2020 der Schwerpunkt der Gewalt ins unmittelbare Wohnumfeld der Betroffenen. Mit welchen Auswirkungen haben Betroffenen nun zu kämpfen?
Rasumny: Es ist in der Tat eine sehr besorgniserregende Entwicklung. Während der Pandemie hat sich diese Verlagerung der Gewalt ins Wohnumfeld verstärkt, doch auch schon zuvor war ein Trend absehbar, dass als Jüd*innen erkennbare Personen in ihrem Zuhause immer häufiger antisemitisch angefeindet wurden. Wenn man sich in den eigenen vier Wänden nicht sicher fühlt, ist das eine umfassende Belastung, und gerade während des Pandemie ist der private Rückzugsort noch wichtiger geworden
UnAuf: Was bedeutet das spezifisch für Opfer antisemitischer Gewalt?
Rasumny: In einem anschaulichen Fall hatte eine promovierte Frau ihren jüdisch klingenden Nachnamen in eine Liste zur Nachbarschaftshilfe eingetragen. Kurze Zeit später stellte sie fest, dass ihr Name durch die Worte „Dr. Corona dreimal klopfen“ ausgetauscht wurde. So etwas vergiftet das gewöhnliche Zusammenleben in einem Mietshaus. Retrospektiv verstand die Frau zudem, dass andere Vorfälle in der Vergangenheit auch einen antisemitischen Hintergrund haben könnten. Solche Situationen führen Betroffenen vor Augen, dass antisemitische Übergriffe jeder Zeit und überall passieren können. Sie beginnen, sich darauf einzustellen und sich beispielsweise nur noch zu bestimmten Zeiten hinauszubegeben. Der Antisemitismus ist für Berliner Jüd*innen ein alltagsprägendes Phänomen.
UnAuf: Trotz der Einschränkungen des öffentlichen Lebens stieg die Zahl der Bedrohungen von Angesicht zu Angesicht von 17 auf 26 Vorfälle – allein zwölf davon in Charlottenburg-Wilmersdorf. Hat der Bezirk ein Antisemitismus-Problem?
Rasumny: In den Bezirken Charlottenburg-Wilmersdorf, Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg sowie in Pankow leben viele Jüd*innen und so findet dort am meisten jüdisches Leben statt. Dort, wo sich erkennbar jüdische Personen bewegen, kommt es mehr noch zu Vorfällen als anderswo. Dass Antisemitismus in Charlottenburg-Wilmersdorf sichtbar wird, heißt noch lange nicht, dass die in anderen Bezirken lebenden Menschen weniger starke antisemitische Haltungen hegen, schließlich kann es in vielen Vierteln vorkommen, dass sich niemand am geäußerten Antisemitismus stört, oder dass Vorfälle nicht gemeldet werden. Wir gehen stark davon aus, dass die Randbezirken Berlins höhere Dunkelziffern haben.
UnAuf: Antisemitismus 2021 – was müssen betroffene Berliner*innen in diesem Jahr befürchten?
Rasumny: Es sieht danach aus, als würde sich das Milieu der Demonstrierenden weiterhin radikalisieren – Übergriffe auf Journalist*innen und auf die Polizei sind inzwischen keine Seltenheit. Eine zunehmende Gewaltbereitschaft ist da und so stellt sich am Ende die Frage: Wann wird sie sich auch antisemitisch entladen? Zudem konnten wir schon in den vergangenen Jahren ablesen, dass auch Wahlen Gelegenheitsstrukturen für die Artikulation von Antisemitismus bieten. Über die Jahre wurden antisemitische Aussagen während Wahlkämpfen immer klarer formuliert. Hinter diesen Stand des Sagbaren können wir nicht mehr zurück.
UnAuf: Welche Hilfestellungen können Sie als Organisation leisten?
Rasumny: Wir bieten den Erstkontakt zu einem umfassenden Netz an Organisationen, die beraten und konkrete Unterstützung leisten. Als wir 2015 die Arbeit aufnahmen, füllten wir eine Lücke. Die Betroffenen konnten damals keine Hilfe beziehen, weil sie nicht wussten, welche Hilfe es gab. Viele Betroffene wissen auch heute noch nicht, dass sie sich zivilgesellschaftliche Hilfe holen können. Wir sehen es als Vermittler als unsere Funktion an, Beratungs- und Interventionsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Zudem helfen wir mit polizeilichen Angelegenheiten, etwa bei der Anzeigenerstellung oder beim sogenannten kleinen Zeugenschutz, also der Anonymisierung der Adresse der anzeigenden Person. Häufig zögern Betroffene ja aus Sorge vor sekundärer Viktimisierung, antisemitische Vorfälle anzuzeigen. Schließlich leisten wir viel an Öffentlichkeitsarbeit, das heißt, Erfahrungen sichtbar machen und Menschen dadurch zum Empowerment verhelfen.
Dieser Text ist Teil unseres Themenschwerpunktes Entnazifizierung. Alle Texte sind hier zu finden.
Ihr seid Opfer antisemitischer Anfeindungen geworden? Unter 030 817985810 erreicht ihr die RIAS Berlin – hier könnte ihr Vorfälle online melden.
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