Abzeichen und Uniform entsorgte Urgroßvater nach Ende des Krieges behutsam. Nicht so leicht entledigte er sich wohl seinen Erinnerungen und Taten. Wer war der Mann im Zweiten Weltkrieg? Warum es wichtig ist, Familiengeschichte aufzuarbeiten.

Dichtes Schneetreiben, Bomben und Geschrei: Die Ostfront im Jahr 1944. Eine Flugabwehrkanone wird in Stellung gebracht, 150 Feuerstöße werden pro Minute per Hand ausgelöst. Die Patronen fliegen bis zu 6,5 Kilometer weit und über 4 Kilometer hoch. Sie sind dazu bestimmt, ein Flugzeug oder einen Panzer abzuschießen, zu töten. Eine sogenannte “Flugabwehrkanone”, kurz “Flak”, bediente mein Uropa in Russland während des Zweiten Weltkriegs. Er steuerte die Abschussmaschinen nicht nur, sondern war als Waffenmeister und Oberfeldwebel der Wehrmacht auch für die Ausbildung von Soldaten zuständig, befahl Einsätze.

Jahrzehnte später

Linzer Torte, Kaffee und spielende Enkelkinder: Das gemütliche Wohnzimmer von Uropa im Jahr 1994. Eine vollgeladene Kuchengabel wird in Stellung gebracht, 100 Kalorien werden pro Minute per Hand in den Mund geschoben. Wie fühlt es sich an, eine Kuchengabel zu ergreifen, um ein Stück Torte zu genießen, wenn diese Hände Tod und Zerstörung mitverantworten? Das sollte niemand aus meiner Familie je erfahren. Nach dem Krieg beendete Uropa seine militärische Laufbahn und trat eine Stelle bei der Post an. Er wurde Oberamtsrat. Über seine Zeit bei der Wehrmacht wollte er für immer schweigen, wie so viele andere.

“Das fand Uropa sicher auch nicht gut”

Heute wird in meiner Familie bei Kaffee und Kuchen noch immer nicht über den Krieg oder die Nachkriegszeit gesprochen. Meine Urgroßeltern leben lange nicht mehr, Oma und Opa waren damals Kinder. Ab und zu ist mal von Angriffen der “Russen” und “Amis” die Rede oder vom langen Weg nach Hause, den mein Uropa aus der Gefangenschaft zu Fuß auf sich nahm. Seine Füße, sein Glück und sein Durchhaltevermögen waren sicher gefordert während des Krieges. Er hat ohne Zweifel gelitten, doch hat er auch im Auftrag des nationalsozialistischen Regimes getötet. Die Frage danach, welche Verantwortung er in Bezug auf begangene Taten trägt, stellt sich innerhalb der Familie niemand. Ich selbst empfinde sie im ersten Moment als anmaßend.

Als ich meinen Opa frage, ob er sich mit der Rolle seines Vaters als Unteroffizier im Krieg je kritisch beschäftigt hat, antwortet er ausweichend: „Das war damals so, das fand der Uropa sicher auch alles nicht gut. Das fand keiner gut, außer die verrückten Nazis.“ Von Konzentrationslagern wusste sein Vater nichts, das hätte er zeitlebens betont. Obwohl mein Opa während der 68er-Bewegung in seinen Zwanzigern war, sprach er nie tiefergehend mit seinem Vater über den Krieg und dessen Einstellung zum Regime. Er glaubte, sowieso keine Antworten zu erhalten.

“Das war damals so” ist eine ziemlich unbefriedigende Antwort. Erstens, was heißt denn “so”? Die genauen Umstände, wie mein Uropa beim Militär ein paar Dienstgrade aufstieg, bleiben verborgen. Zweitens, auch wenn mein Opa darüber wenig weiß, scheint er das Ganze lieber auch nicht genauer hinterfragen zu wollen. Ihm ist es wichtig, seinen Vater stattdessen in ein angenehmes Licht zu rücken: „Das fand der Uropa sicher auch alles nicht gut“. Das kann durchaus sein, aber woher will er das wissen, wenn er nie Antworten erhalten hat? Weiter gibt er zu bedenken: „Fast jeder war damals im Krieg oder halb tot oder in Gefangenschaft“, da hat mein Opa leider Recht, doch ist es mit diesen generischen Aussagen getan? Ich finde nicht, glaube aber auch, dass meiner Familie wenig bekannt und an einer Aufarbeitung nicht gelegen ist. Oft weiß man kaum etwas und ist auch froh darüber.

Warum Familiengeschichte aufarbeiten?

Nicht nur in meiner Familie scheint es selbstverständlich zu sein, die Verwandten lieber schnell von den “verrückten Nazis” abgrenzen zu wollen. So ergaben Studien (IKG 2019, Welzer et al 2002), dass im familiären Umfeld viel über Mut, Hilfsbereitschaft und Leid der Verwandten während des Krieges berichtet wird. Nur wenige scheinen den Erzählungen der Hinterbliebenen zufolge Antisemiten gewesen zu sein oder das Regime als “Täter” unterstützt zu haben. Von Konzentrationslagern wusste angeblich auch kaum jemand etwas, genau wie mein Uropa.

Die Motive für Verdrängung und Beschönigungen im Familiengedächtnis mögen nachvollziehbar sein. Dennoch bedeutet Schweigen oder Verharmlosung in Bezug auf die Familiengeschichte während der NS-Zeit auch Gleichgültigkeit und Verantwortungslosigkeit gegenüber den Opfern des Zweiten Weltkriegs und deren Nachfahren.

Bei dem Versuch mir vorzustellen, was Mitte des 20. Jahrhunderts passierte, habe ich den Eindruck, als hätte der Krieg in einer anderen Welt stattgefunden. All die Gewalt erscheint mir surreal, weit entfernt. Verdrängung und Beschönigungen in Bezug auf den Krieg, und darin involvierte Familienmitglieder, führen dazu, dass das so bleibt. Es braucht ein kritisches Hinterfragen von Biografien der eigenen Verwandten, Recherchen und familiäre Aufarbeitung, um die unfassbaren Gewalttaten in einen persönlichen Bezugsrahmen hineinzutragen, greifbar zu machen. Dadurch würde das hohe Gut des Friedens in Deutschland vielleicht mehr wertgeschätzt, sorgsamer bewahrt und auch für andere Gesellschaften stärker eingefordert werden.


Dieser Text ist Teil unseres Themenschwerpunktes Entnazifizierung. Alle Texte sind hier zu finden.