Auch 76 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft beschäftigen wir uns mit dem Thema Entnazifizierung. Anfang des Jahres erzählten Menschen in den Sozialen Medien unter dem Hashtag #MeinNaziHintergrund von ihrer NS-Familiengeschichte — denn Bewusstsein für die Taten des NS-Regimes braucht es nicht nur in der Politik, sondern auch im persönlichen Umfeld. Wir haben Studierende gefragt, ob sie sich schon einmal mit der Rolle ihrer Groß- und Urgroßeltern in der NS-Zeit auseinandergesetzt haben. Hier erzählen sie ihre Geschichte:
„Ich habe vor kurzem die Hakenkreuz-Uniform meines Uropas in einer Truhe im Keller gefunden. So habe ich mit 21 herausgefunden, dass er bei uns im Dorf Nazi-Bürgermeister war. Danach habe ich mit meinem Vater darüber gesprochen, der das ein bisschen relativiert und darauf gepocht hat, dass meinem Uropa keine Optionen blieben zwischen 1933 und 1945 das Amt des Bürgermeisters inne zu haben, ohne Teil der NS-Partei zu sein. Ich sehe das anders: Eine politische Funktion in einem noch so kleinen Dorf damals einzunehmen, ist ein Eingeständnis. Vielleicht ging es meinem Uropa lediglich um das Wohl des Dorfes, vielleicht hatte er gar kein näheren Bezug zur NS-Partei. Da seine Frau aber auch noch nach seinem Tod, die Taten Hitlers im Zweiten Weltkrieg klein redete, denke ich, dass es nicht nur ein Kompromiss war, in die Partei einzutreten, sondern eine bewusste Entscheidung.“
— Leon, 21 Jahre
„Meine Oma kann bis heute keine Steckrüben mehr essen — das war das Einzige, was es damals gab.“
„Mein Opa väterlicherseits ist 1940 geboren und hat demnach keinen direkten Bezug zur NS-Zeit. Sein Vater, mein Urgroßvater, hatte vor dem Krieg ein kleines Reiseunternehmen, das er während des Krieges nicht weiterführen konnte, da er eingezogen wurde. Ihm war es jedoch immer sehr wichtig, zu betonen, dass er nur ein einfacher Soldat war und nicht in der Hierarchie aufsteigen wollte.
Mein Opa erzählte mir auch, dass sie am Ende des Krieges aufgrund der Bombardements von Braunschweig aufs Land flüchten mussten. Eines Tages kamen britische Soldaten, die den Kindern Schokolade schenkten und sie auf den Panzern spielen ließen. An diesem Tag sah mein Opa auch zum ersten Mal einen nicht-weißen Menschen.
Meine Oma mütterlicherseits ist in Schlesien geboren, also in einem ehemaligen deutschen Ostgebiet, und musste deshalb mit ihrer Mutter fliehen. Ihr Vater, mein Uropa, war im Krieg und später in sowjetischer Gefangenschaft. Er kam Anfang der 1950er-Jahre zurück. Meine Oma betont noch heute, dass sie sich, obwohl sie erst 1934 geboren wurde, sehr an den Hunger erinnern kann. Bis heute kann sie keine Steckrüben mehr essen — das war das Einzige, was es damals gab.“
— Anton, 21 Jahre
„Ich finde für mich persönlich, dass ich noch immer eine Mitschuld trage.“
„Ich bin Deutsch-Italienerin. Mein Großvater mütterlicherseits war in der Armee und hat in Russland gekämpft. Währenddessen tauchten meine italienische Oma und ihre beiden Schwestern in einem katholischen Kloster unter, weil sie jüdischer Abstammung waren. Die Geschichte meiner Oma ist in meiner Familie väterlicherseits unterschwellig noch immer präsent. In meiner deutschen Familie ist die Vergangenheit meines Großvaters leider kein wirkliches Thema mehr, denn er scheint darüber nicht gerne geredet zu haben. Für meine Mutter spielt das jedoch auch noch heute eine Rolle.
Leider konnte ich auch mit meiner Oma nicht mehr darüber sprechen, was ihr Mann damals so getrieben hat. Das musste ich akzeptieren und dennoch finde ich für mich persönlich, dass ich immer noch eine Mitschuld trage. Ich bin Deutsche und meine Familie war damals Teil des Problems und trotzdem verdanke ich es meinem Großvater auch, dass ich jetzt in einer privilegierten Situation, als Deutsche, lebe. Also trage ich als deutsche Bürgerin eine Mitlast und wenn es beispielsweise um Reparationszahlungen oder Erinnerungspolitik geht, finde ich es richtig, dass meine Steuergelder, sobald ich berufstätig bin, auch dafür verwendet werden. Die moralischen Schulden bleiben nichtsdestotrotz.“
— Luna, 19 Jahre
„Als ich im KZ Mauthausen war, dachte ich mir bei jedem Schritt, dass hier mein Urgroßvater langgegangen sein könnte, als er gerade auf dem Weg war, Menschen zu tyrannisieren, zu quälen oder zu töten.“
„Da meine Familie aus Siebenbürgen in Rumänien kommt, dachte ich eigentlich immer puh, bei der NS-Geschichte Deutschlands sind wir fein raus. Allein dadurch, dass ich in Deutschland aufgewachsen bin, hatte ich schon immer ein krasses Schuldgefühl und habe mich schon sehr früh mit der NS-Zeit beschäftigt.
Dass meine Familie doch etwas mit dem NS-Regime zu tun hatte, habe ich erfahren, als wir in der neunten Klasse einen Ausflug zum KZ Mauthausen machten. Ich habe meiner Großmutter davon erzählt, worauf sie mich anschaute und sagte: ‚Ach ja, da war ja mein Vater auch‘. Durch die Erzählungen meiner Großmutter habe ich das Gefühl, dass es für viele Angehörige der deutschen Minderheiten in Rumänien wie ein Ruf in die alte Heimat war, als die Wehrmacht kam. Da die deutschen Minderheiten in Rumänien immer sehr an ihrer deutschen Abstammung fest hielten, war ihnen der Zusammenhalt mit anderen deutschen Volksgruppen sehr wichtig. Noch heute bekomme ich mit, dass sich viele Siebenbürger Sachsen, Landler oder Banater Schwaben viel darauf einbilden, ‚Volksdeutsche‘ zu sein.
Mein Urgroßvater wurde gegen Ende des Krieges in die Waffen-SS eingezogen und war in Mauthausen stationiert. Mehr über seine genaue Tätigkeit konnte ich leider weder im Archiv in Mauthausen, noch im Bundesarchiv herausfinden.
Als ich im KZ Mauthausen war, dachte ich mir bei jedem Schritt, dass hier mein Urgroßvater langgegangen sein könnte als er gerade auf dem Weg war, Menschen zu tyrannisieren, zu quälen oder zu töten. Ich habe mich gefragt, was ihm damals durch den Kopf ging, warum er herkam, ob er überhaupt herkommen wollte oder ob er gezwungen wurde. Mir gingen so viele Fragen durch den Kopf. Da hatte und habe ich nach wie vor so ein Schuldgefühl, weil ich mich frage, wie er sich überreden lassen konnte, so etwas zu tun, falls er nicht aus Überzeugung tat. War er vielleicht einer der wenigen Guten? Das werde ich leider nie herausfinden.“
— Johannes*, 24 Jahre
„Normalerweise liest man solche Gedichte in Museen. Das ist wirklich etwas ganz anderes, wenn es der eigene Uropa geschrieben hat.“
„Meine Uroma wurde 1913 geboren, mein Uropa 1908. Beide waren sehr christlich. Mein Uropa war für die damaligen Verhältnisse ein sehr weltoffener Mensch. In seiner Jugend war er mit einem Freund auf Wanderschaft durch ganz Europa — seine Reise hat er auf Kassetten aufgenommen.
Als das Ganze anfing, ist er auf einer Kolping-Versammlung sogar gegen
die Hitler-Jugend aufgestanden, die die Versammlung auflösen wollte. Er war kein Anhänger der Nazis, wurde dann aber trotzdem als Soldat eingezogen und in Russland stationiert. Er kam zurück mit einem steifen Bein und war wohl sehr verbittert und wesensverändert. Mit dem Bein konnte er schließlich seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Wandern, nicht mehr nachgehen. Er hat noch im Krieg ein Gedicht geschrieben. Ich finde es bis heute schwierig zu begreifen, dass das wirklich die Erlebnisse meiner eigenen Familie sind. Normalerweise liest man so etwas in Museen. Das ist wirklich etwas ganz anderes, wenn es der eigene Uropa geschrieben hat.
1940 hat meine Uroma meinen Opa in Oberhausen auf die Welt gebracht. Oberhausen wurde stark zerbombt, sodass die beiden aus dem Ruhrgebiet heraus evakuiert wurden und in der Nähe von Berlin bei zwei anderen Frauen und deren Kindern unterkamen. Uroma hat den Kontakt zu den Frauen gehalten, sodass meine Mama zu DDR-Zeiten eine Tochter der Frauen besuchen konnte. Meine Uroma erzählte nie viel von der Zeit und hat alles totgeschwiegen. An Gedenktagen durfte man sie nicht auf das Geschehene ansprechen. Als Mama bei der Frau in Berlin zu Besuch war, erzählte sie meiner Mutter, dass meine Uroma von einem oder mehreren russischen Soldaten vergewaltigt wurde. Jetzt verstehe ich auch den Schutzmechanismus meiner Uroma, nicht darüber zu reden, weil sie in keiner Weise daran zurückerinnert werden wollte. Sie hat alles verschwiegen, um es hinter sich zu lassen.“
— Anna*, 19 Jahre alt
„Seine Nazi-Vergangenheit schien ihm nicht mehr im Weg zu stehen, aber er sprach ja auch nie darüber.“
„Meine Mutter ist niederländisch. Ihr Opa, also mein Uropa, trat relativ spät in die niederländische Nazi-Partei NSB ein. Alle Bekannten waren sehr überrascht davon, da mein Urgroßvater ziemlich unpolitisch war. Erzählungen nach patrouillierte er dann in seiner Uniform durch das Dorf und keine wusste so recht, wieso er das wirklich tat — vielleicht aus Eitelkeit; vielleicht, weil er doch mit der Partei sympathisierte. Nach dem Krieg musste mein Urgroßvater für ein Jahr in ein Straflager. Danach hätte er wegen seiner NSB-Vergangenheit beinahe sein ganzes Vermögen verloren, doch mein Opa, der zu der Zeit gerade meine Oma kennenlernte, kannte sich sehr gut mit Buchhaltung aus, fälschte alle Unterlagen und verhinderte, dass sein künftiger Schwiegervater alles verlieren würde — und das, obwohl er selbst sehr links und engagiert war.
Als mein Urgroßvater aus dem Straflager zurückkam, ging er einfach wieder seinem Beruf als Schmied nach. Seine Nazi-Vergangenheit schien ihm nicht mehr im Weg zu stehen, aber er sprach ja auch nie darüber. Für meine Oma war es sehr schlimm, zuzugeben, dass ihr Vater etwas mit den Nazis zu tun hatte. Selbst als ihre beste Freundin von der Nazi-Vergangenheit ihres Vater erzählte, traute sie sich nicht, zu sagen, dass es bei ihr genauso war.
Wenn mir meine Eltern von der Vergangenheit unserer Familien erzählen, dann ist das sehr fremd für mich. Ich identifiziere mich mit meinen Groß- und Urgroßeltern in dem Bewusstsein, dass sie meine Vorfahren waren. Ihr Leben und die Entscheidungen, die sie trafen, kann ich aber nicht verstehen, gar nachempfinden. Dafür ist die Distanz einfach zu groß. Für mich sind das Geschichten, besser noch, es ist greifbare Geschichte.“
— Tobe, 20 Jahre alt
* Name geändert
Dieser Text ist Teil unseres Themenschwerpunktes Entnazifizierung. Alle Texte sind hier zu finden.