Die Arte-Dokumentation von Mickaël Gamrasni ist ein Parforceritt durch Deutschlands Aufarbeitung seiner NS-Vergangenheit. In Ost- und Westdeutschland rückt die Entnazifizierung immer wieder in den Hintergrund. In beeindruckenden Bildern wird gezeigt, dass die Entnazifizierung auch heute noch lange nicht abgeschlossen ist.

Ein junger Soldat hämmert auf eine Hitler-Büste ein. Die metallene Büste verformt sich, Hitlers Gesicht bröckelt. 
Die ersten Minuten der Dokumentation Entnazifizierung. Eine Geschichte vom Scheitern geben, in ausdrucksstarken Sequenzen, einen Einblick in die Gründlichkeit, mit welcher die Siegermächte die Symbole der Nazi-Herrschaft zerstörten. 
Hakenkreuze wurden abgerissen, Litfaßsäulen von Nazi-Propaganda befreit und Hitlers Bestseller Mein Kampf landet im Feuer.

Aber ein Land voller Nazis bleibt auch ohne Hakenkreuze und Hitler-Büsten ein Land voller Nazis. „Ganz Deutschland ist nazifiziert“ wird ein Bericht der Siegermächte in der Dokumentation zitiert. Trotz dieser Feststellung verschwindet die Entnazifizierung schnell aus dem Fokus. Kurz nach Kriegsende rekrutieren die USA 2.000 Wissenschaftler, Ingenieure und Mediziner – führende Figuren des Nazi-Regimes. Der bekannteste unter ihnen: Wernher von Braun.
 Seinerzeit SS-Sturmbannführer, wechselte von Braun, der Kopf hinter den Raketenwaffen des NS-Deutschlands, in die US-amerikanische Raketenforschung. Anschließend arbeitete er jahrelang für die NASA.

Sowohl in den westlichen als auch der östlichen Besatzungszone kommt es kurz nach Kriegsende zu Verurteilungen, auch zu zahlreichen Todesurteilen. Bald macht sich allerdings ein Problem bemerkbar: Wenn alle Schuldigen verurteilt werden, bleibt niemand mehr übrig.

Dieses Problem lösen die Besatzungsmächte unterschiedlich und doch ähnlich. Im Osten kann sich der ehemalige Wehrmachtssoldat durch eine Parteimitgliedschaft in der SED reinwaschen. Und im Westen ersetzen Fragebögen zum Selbstausfüllen die Gerichtsverfahren. „Wer einer Verurteilung entgehen, oder einen Posten finden will, antwortet mit Nein“. Deutsche Beamte sind behilflich.

An wenigen, gut gewählten Ereignissen schildert Regisseur Mickaël Gamrasni die verschiedenen Anstrengungen in West- und Ostdeutschland und warum sie gescheitert sind. 
Mit beeindruckenden Archiv-Aufnahmen zeigt er, wie die Entnazifizierung immer weiter entgleist. Zehn Jahre nach Kriegsende wird das deutsche Wirtschaftswunder von denselben alten Nazis dirigiert.

Heinrich Nordhoff, bei Kriegsende galt er noch als einer der Hauptschuldigen für die Kriegsverbrechen, ist Vorstandsvorsitzender von Volkswagen. Friedrich Flick, zu der Zeit reichster Deutscher, ließ wenige Jahre zuvor noch 40.000 Zwangsarbeiter*innen in seinen Fabriken schuften.

In der DDR wird die NS-Vergangenheit nur dann thematisiert, wenn damit Westdeutschland, oft sehr zu Recht, oder inländische Dissident*innen kompromittiert werden können. 
Auch der Bau der Berliner Mauer wird damit gerechtfertigt. Das antifaschistische Ostdeutschland muss sich vor dem faschistischen Westdeutschland schützen, so die Logik.

Gamrasnis Dokumentation zeigt, wie das Schweigetuch nach den Auschwitz-Prozessen nicht mehr akzeptiert wird und die nachkommende Generation, die von ihren Eltern und Großeltern so eilig verbuddelte Vergangenheit wieder an die Oberfläche zerrt. Ebenso werden auch weitere NS-Verbrecher*innen wieder an die Oberfläche geholt. Manche von ihnen werden verurteilt. Eine wirkliche Aufarbeitung der Vergangenheit passiert trotzdem nicht. 
Und noch bevor eine wirkliche Entnazifizierung beginnt, werden schon wieder neue Hakenkreuze an Synagogen geschmiert.

In ihren knapp 52 Minuten gibt die Dokumentation nur einen kleinen Überblick, aber einen empfehlenswerten. Die Dramaturgie dieser „Geschichte vom Scheitern“ zeigt nachvollziehbar und drastisch, wie die Entnazifizierung immer wieder stecken bleibt. Westdeutschland ist zu beschäftigt mit vergessen und schweigen. Ostdeutschland suhlt sich in dem eigens gesponnenen Mythos der „antifaschistisch-demokratischen Einheit“.

Vieles bleibt grob. Oft möchte man nachfragen „Wieso“ und „Warum“. Aber das überlässt der Regisseur uns Zuschauer*innen. Wir selbst haben die Verantwortung uns mit unserer deutschen Vergangenheit zu beschäftigen. 
Die Dokumentation macht deutlich: Die Entnazifizierung ist auch heute noch lange nicht abgeschlossen.


Dieser Text ist Teil unseres Themenschwerpunktes Entnazifizierung. Alle Texte sind hier zu finden.

Frankreich 2020 · 52 min.
Regie: Mickaël Gamrasni
Drehbuch: Mickaël Gamrasni
Bis zum 5. September in der ARTE-Mediathek
https://www.arte.tv/de/videos/090597-000-A/geschehen-neu-gesehen-wahre-geschichte/