Nach dem hervorragenden Madeline’s Madeline legt Josephine Decker mit Shirley nochmal eine Schippe drauf. Schon jetzt eines der Highlights des Kinojahres 2020.
Als die titelgebende Shirley (Elisabeth Moss, Her Smell) während einer Dinner-Party von einem Fakultätsmitglied ihres Mannes belagert wird, der sie auf die Intensität ihrer Geschichten anspricht, wimmelt sie den Bewunderer mit einem lapidaren „They are just stories” ab. Eine bemerkenswerte Aussage für eine Figur aus einem Josephine-Decker-Film, in deren Werk nicht einfach die Grenze zwischen Fiktion und Realität ausgelotet, sondern vielmehr verleugnet wird. Shirley, das ist natürlich die amerikanische Schriftstellerin Shirley Jackson, die in der Nachkriegszeit insbesondere durch ihre Genreliteratur große Popularität gewann. Geschickt versucht Decker, sich dieser überlebensgroßen Figur über Umwege anzunähern, um den gängigen Biopic-Konventionen zu entfliehen.
Das beginnt bereits damit, dass Decker für ihre Interpretation nicht Jacksons historische Lebensgeschichte zugrunde legt, sondern den gleichnamigen Roman Susan Scarf Merrells aus dem Jahr 2014. Auch Merrells Roman nähert sich der titelgebenden Figur nicht direkt. Statt sich in den Kopf der Schriftstellerin zu versetzen, erzählt sie die Geschichte um ein junges Paar, das im Herbstsemester 1964, zunächst vorläufig, bei der gefeierten Schriftstellerin und ihrem Ehemann, dem renommierten Literaturprofessor Stanley Hyman, einzieht, aus der Perspektive der schwangeren Rose.
Durch die Augen dieser Rose (Odessa Young) sehen wir Shirley zum ersten Mal am Tag der von den gefeierten Eheleuten gegebenen Semesterauftaktparty, als sie mit ihrem frisch verheirateten Ehemann Fred (Logan Lerman, The Perks of Being a Wallflower), im beschaulichen Bennington aufschlägt.
Sie folgen der Einladung Stanleys, der sich von der Aufnahme der beiden, doch eigentlich von Rose, die schwangerschaftsbedingt die Schule abgebrochen hat, vor allem regelmäßige Mahlzeiten und ein sauberes Haus erhofft, ist seine Frau doch der Meinung, ein sauberes Haus sei ein Sinnbild geistiger Unterlegenheit. Und während Fred in der Folge alles tut, um Stanley zu genügen, tastet sich Rose bedächtig an Shirley heran. Eine neue Recherche über verschwundene College-Studentinnen in Bennington, aber auch über die Staatsgrenzen Vermonts hinaus, verspricht etwas Großes. Ja – vielleicht sogar einen Roman.
Alles ist fluide – auch das Genre
Es ist also die Ableitung einer Ableitung, diese Shirley, die Decker uns hier präsentiert; eine Shirley, die sich den Großteil ihres Tages unter ihre Bettdecke zurückzieht, in einem Zustand irgendwo zwischen Sozialphobie und Frustration, Manie und Phlegma. Michael Stuhlbarg spielt ihren Ehemann Stanley und tritt dabei fast als Alter Ego seiner Figur aus Luca Guadagninos modernem Klassiker Call Me By Your Name auf: Zwar mit gleichem intellektuellen Verstand, doch auch sprunghaft, egomanisch und übergriffig.
In ihm findet Shirley ihren einzig Ebenbürtigen, und es ist eine wahre Freude, ihm dabei zuzusehen, wie er gleichzeitig abstoßend und anziehend auf seine Umgebung wirkt, immer im Wissen, jederzeit jede Person im Raum, allein dank seiner rhetorischer Fähigkeiten Matt setzen zu können. Insbesondere zeigt sich das in seinem Umgang mit Fred, für den es nichts Größeres gibt als die Aussicht, lieber früher denn später, selbst die Vorlesungen zu halten.
Wer bei all dem dennoch befürchtet, Decker würde hier eines dieser drögen, nicht totzukriegenden Biopics erzählen, darf sich beruhigen. Shirley ist so weit entfernt von einer solchen Genrestarre, wie Elisabeth Moss davon, eine Rolle in einer romantischen Komödie anzunehmen. Die audiovisuelle Schwerelosigkeit, die schon Madeline’s Madeline auszeichnete, entwickelt sie hier gemeinsam mit dem Ausnahme-Kameramann Sturla Brandth Grøvlen weiter, der sich 2014 bereits für Sebastian Schippers wahnwitzigen Victoria, eine mehr als zweistündige, nervenaufreibende Plansequenz durch das Berliner Nachtleben, verantwortlich zeichnete.
Heraus kommt dabei ein Stil, der förmlich pulsiert, evoziert durch eine Kamera, die niemals ruht, einen Fokus, der niemals verweilt, einen Score, der sich fast unmerklich über die Szenerie legt, so sehr verschmilzt er mit den Bildern. Selbst die Dialoge versteht Decker mehr als Musik, bei der die Melodie ebenso wichtig ist wie ihr Text, wie sie am Rande eines Interviews während der Berlinale zu verstehen gab. Auf diese Weise gerät alles in ein zunehmend manisches Schwingen, dem weniger Plot denn Stimmungen zugrunde liegen.
Wo das gesamte Werk eines Christopher Nolan um das Motiv Zeit kreist, wo Hirokazu Kore-eda immer wieder aufs neue verhandelt, was eigentlich eine Familie ausmacht, wo ein Bong Joon-ho den Kapitalismus als die westliche Welt einende Grundkonstellation begreift und aus dieser Position heraus parabelartige Szenarien kreiert, so scheint Decker ihr Sujet in der Beziehung zwischen Realität und Fiktion gefunden zu haben gefunden zu haben. Die Wiederholung einzelner Motive, das beweisen oben genannte Filmschaffende, mündet nicht notwendigerweise in einer sich fortlaufend wiederholdenen Geschichte.
Doch ist es bei Decker stets das Wie, nicht das Was, das in den Vordergrund tritt. Die Form allein spricht eine eigene Sprache, und nur wenige Filmschaffende heute verstehen es wie Decker, eine so distinkte audiovisuelle Handschrift zu entwickeln, gleichzeitig diffus wie präzise. Das ist auch Hollywood nicht entgangen, können wir in den End Credits doch den Namen Martin Scorsese als ausführenden Produzenten lesen.
Nach Madeline’s Madeline setzt Josephine Decker die Messlatte noch einmal höher. Shirley ist ein großer Wurf und macht neugierig auf all die Projekte, die da noch kommen mögen.
Regisseurin: Josephine Decker
Filmlänge: 106 Min.
Produktionsland: USA