Christian Schultheisz erzählt in seinem schmalen, aber charmant inszenierten Erstling von einem fast vergessenen Sonderling: dem Allesforscher Hans Jürgen von der Wense.

In der Polis der griechischen Antike bezeichnete der Begriff Idiot eine Person, die sich aus den öffentlichen und politischen Ämtern heraushielt und sich nur den eigenen, privaten Anliegen verpflichtet fühlte. Obwohl dem Idioten heutzutage längst eine andere Bedeutung zugekommen ist, gibt es ungebrochen jenen Typus Mensch, der sich um die gesellschaftliche Lage nicht zu scheren scheint und sich von ihr nicht diktieren lassen möchte, welchen Interessen und Tätigkeiten er nachgeht. Der sich nicht kümmert um Trends, Standards, Meinungen und Umstände; gar die Unverfrorenheit besitzt, ganz sich selbst zu genügen.

So gesehen ist Hans Jürgen von der Wense ein Idiot. Doch deshalb noch lange nicht dumm oder unwissend. Im Gegenteil. Wenn es nach Karl Marx die gelebte Utopie wäre, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends das Vieh zu halten und nach dem Essen zu kritisieren, ohne je Jäger, Fischer, Hirte oder Kritiker zu werden, dann ist dieser Wense ihre Verkörperung und mitnichten ein schlichter Geist.

Wense, 1894 in Ostpreußen geboren, 1966 in Göttingen verstorben, war ein Alleskönner und Alleswisser, ohne je etwas zur Spitze zu treiben und sich nachhaltig in die Geschichtsbücher einzuschreiben. Ein „Universaldilettant“ formuliert es der Klappentext passgenau. 

Wense studierte zunächst Maschinenbau und Nationalökonomie, dann Philosophie und Rechtswissenschaften, brach die Studiengänge ab, widmete sich dem Komponieren, lernte Arabisch, Sanskrit, Altirisch, Walisisch, Suaheli und weitere Sprachen, übersetzte chinesische Klassiker, beschäftigte sich mit Meteorologie, Geologie, Astrologie und Astronomie, kartografierte Landschaften auf seinen unzähligen Wanderungen, fotografierte, war schriftstellerisch tätig …

Wense: 60.000 Seiten Nachlass

Wenses Nachlass umfasst unter anderem 60,000 beschriebene Seiten, 40 Tagebücher und Kompositionen, 3000 Fotos sowie 258 Messtischblätter. Trotzdem ist von der Wense ein nahezu Unbekannter in der deutschen Kulturgeschichte und von äußerst wenigen Veröffentlichungen abgesehen, zum Beispiel im Verlag Matthes & Seitz, in Vergessenheit geraten. Der posthume Ruhm scheint ihm nicht vergönnt. Auch zeitlebens veröffentlichte dieser Solitär nur wenig aus seinem umfangreichen Schaffen.
Umso erstaunlicher, dass nun ein Debütroman diesem umtriebigen Mann ein schmales, höchst charmantes Porträt zur Seite stellt. Wense lautet der schlichte, fast kumpelhafte Titel.
Christian Schultheisz, Jahrgang 1985, bisher nur bekannt durch einige Hörspiele und der Teilnahme am open mike 2017, folgt nicht dem uferlosen Eskapismus der Biografie  seines Heldens, sondern beschränkt sich auf eine kurze Episode seines Lebens und versetzt ihn nach Göttingen. 1943.

Die Bomben der Alliierten fallen in immer kürzer werdenden Abständen auf das Nazireich herab. Vom Kriegsdienst ist Wense glücklicherweise befreit. Stattdessen muss er für das Regime eine Abteilung in den physikalischen Werkstätten leiten, bei der er mithilfe von Kriegsgefangenen Sonden für den militärischen Wetterdienst prüft und wartet. Eine Aufgabe, die er überaus gewissenhaft und zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten ausübt, obgleich es ihn schon schmerzt derart von seinen Studien und Wanderungen abgehalten zu werden. Ständig plagen ihn Rücken- und Kopfschmerzen.
Er sei plötzlich so anständig wie nie, meint Wense lakonisch im Gespräch mit einem Kollegen. Nie zuvor sein Leben so bürgerlich und geordnet. Plötzlich, während die Welt ringsherum mobil macht, in Feuer und Blut versinkt, ist der ewig unruhige Wanderer zur Ruhe gezwungen.

Es sind diese im Roman unaufdringlich präsentierten Kontraste, zwischen der äußeren Wirklichkeit und der inneren Wahrnehmung, mit denen Schultheisz liebevoll, aber nie mitleidig oder anbiedernd ein nuanciertes wie ambivalentes Porträt seines Protagonisten zeichnet. Wense ist weder Opportunist, noch Oppositioneller, weder klares Opfer oder skrupelloser Täter.
Mit den Nazis sympathisiert er nicht, bleibt ihrer Ideologie fremd, schert sich aber auch nicht merkbar um die politische Lage, so fern sie ihn selbst nicht betrifft, etwa wenn er sich Sorgen um seine Berliner Freunde macht oder um das zerbombte Kassel –
Ein Gestöber aus Sternchen und Schwarzen Löchern“ trauert. Er unterdrückt sein homosexuelles Begehren zu einem französischen Kriegsgefangen, zögert aber nicht vermeintliche Feindpropaganda zweier Polinnen bei seinen Vorgesetzten zu melden.

Im besten Sinn kurzweilige Literatur

Freie Tage nutzt er zum Wandern in der ostfälischen Landschaft oder in der Bibliothek, um seinen Geist zu stimulieren. In die bricht er sogar nachts ein, um in geologischen Zeitschriften zu blättern. Bücher und Wälder sind seine Elemente.

Er interessiert sich für die Kassiden des arabischen Dichters Imru’ al-Quais, alte Wetterkarten, das chinesische Horoskop I-Djing oder weshalb Soldaten und Turner mit gespreizten Füßen strammstehen. Selbst eine Unscheinbarkeit wie ein Stab regen ihn zu einer wirren Kaskade von Gedanken an: Dieser könne als Tiefenmesser, als Waffe, als Zepter, zum Essen, als Mast, als Hühnerstange, Gehhilfe, zum Golfen, schlicht zum Schreiben im Sand verwendet werden, wie es vor Jahrtausenden der erste Mensch getan haben musste, der die Schrift erfand; kurzum: selbst ein banaler Gegenstand kann in Wenses Kopf Protagonist der kompletten Menschheitsgeschichte sein.

Wense ist in diesen Kriegsjahren alles, aber kein explizit politischer Mensch. Eben ein Idiot. Und wie in den Komödien hat das eine humorige, zugleich melancholische Seite, die Schultheisz mit einem sicheren Gespür für Timing und Stimmung oszillieren lässt. Eine absurde Komik hat es, Wense durch die knappen Kapitel zu begleiten, die der Autor Schultheisz dynamisch und pointiert, heiter und sentimental aneinander montiert. 

Die Prosa fließt schnörkellos durch den Roman, die Dialoge sind spritzig. Wie die Gedanken seiner Hauptfigur ist der Text ist rasant, erratisch und präzise zugleich. Und dann blitzen vereinzelt poetische Beschreibungen, die, bei aller Weltferne, Sensibilität von Wense auf:

Diese Nacht ist sternenlos, der Himmel hält sich bedeckt, doch die Galaxien dahinter sind nur umso deutlicher zu spüren, die Drehungen und Wirbel ihrer gewaltigen Massen, der Tanz der Materie im Rhythmus der Physik, die Welt wurde geworfen aus dem Hüftschwung des Alls!“ Auch (oder erst recht?) ein Idiot vermag die kosmischen Schwingungen, die die Welt erschüttern, zu erfassen. 

Wense ist ein im besten Sinne kurzweiliges Stück Literatur. Keineswegs soll das aber darüber hinwegtäuschen, dass Christian Schultheisz dem Spleen seines Wenses eine feinfühlige und komplexe Studie widmet. Fragen nach dem Sinn und der Verwertbarkeit von Wissen stellt der Roman genauso wie nach der Freiheit des Individuellen und Idiosynkratischen inmitten gesellschaftlicher Verwerfungen. Neugierig macht das alles nicht nur auf die Originalschriften von der Wenses, sondern auch auf den nächsten Roman von Christian Schultheisz.

 


Christian Schultheisz: Wense
Berenberg Verlag 2020
128 Seiten, Halbleinen-Fadenheftung. 22,00€