Zehntausende Internetnutzer*innen und Medienschaffende haben am 23. März europaweit gegen die mittlerweile verabschiedete Urheberrechtsreform der Europäischen Union protestiert. Sie forderten ein freies Internet und damit auch die Bewahrung ihrer Kultur. Die UnAuf war bei der Demonstration in Berlin dabei
Bei sonnigen 17 Grad haben sich bereits eine halbe Stunde vor dem offiziellen Beginn der Veranstaltung mehrere tausend Menschen auf dem Potsdamer Platz eingefunden. Es wird schnell deutlich, dass vor allem Jugendlichen und jungen Erwachsenen das Thema der Demonstration am Herzen liegt, denn sie bilden mit Abstand die größte Gruppe vor Ort. Vereinzelt sind auch Eltern mit ihren Kindern anwesend. Manche Demonstrant*innen tragen auffällige Kostüme im Pikachu- oder im Einhorndesign, andere tragen T-Shirts mit aufgedruckten Band-, Film- oder Serienlogos. Besonders ins Auge stechen allerdings die zahlreichen kreativen Schilder. Viele von ihnen könnten auch im Internet als „Meme“ zu finden sein. Ihren Unmut äußern sie mit Sprüchen wie: „Why do u destroy the Internetz!?“ oder „Nein zu Artikel 13 & Zensur“. Auch Internet-Größen wie der YouTuber und Let’s-Player „Gronkh“ (bürgerlich Erik Range) und der Nachrichten-YouTuber „HerrNewstime“ (bürgerlich Thomas Hackner), sowie der SPD-Europaabgeordnete Tiemo Wölken sind anwesend.
Zum Protest aufgerufen hat die Kampagne „Save The Internet“. Europaweit wurden über 70 Demonstrationen angekündigt, allein rund 40 davon in Deutschland. Anlass dafür ist die seit Jahren auf europäischer Ebene geplante Reform des Urheberrechts. Der deutsche Europaabgeordnete Axel Voss (CDU) war als Mitglied des Rechtsausschusses federführend bei der Erstellung eines Gesetzesentwurfs beteiligt. Im September 2018 ging dieser in die „Trilogverhandlungen“ zwischen dem Europäischen Parlament, dem Europäischen Rat und der Europäischen Kommission. Dieses Verfahren wird dann eingesetzt, wenn zwischen den drei gesetzgebenden Institutionen Unstimmigkeiten in Bezug auf einen Gesetzesentwurf bestehen. Unter Moderation der EU-Kommission verhandeln Vertreter*innen des EU-Parlaments mit Vertreter*innen der EU-Mitgliedstaaten über den konkreten Inhalt des Gesetzestextes. Am 14. Februar 2019 endeten die Verhandlungen über die Urheberrechtsreform und es wurde eine erste offizielle Richtlinie veröffentlicht. Die Befürworter*innen meinen, die Reform sei lediglich eine Anpassung bestehender Gesetze an das digitale Zeitalter. Mit dem Aufblühen des Internets und den sozialen Medien sei es zu einfach geworden, urheberrechtlich geschütztes Material zu verbreiten. In der öffentlichen Debatte werden besonders Artikel 11 und Artikel 13 (mittlerweile Artikel 15 und Artikel 17) kontrovers diskutiert.
Artikel 11 sieht ein sogenanntes Leistungsschutzrecht für Presseverleger vor. Demnach müssten Onlinedienste dafür zahlen, wenn sie auch nur kleine Ausschnitte von Presseartikeln verbreiten. Dies betreffe insbesondere Dienste wie Google News, die auf Artikel verlinken und dabei den Titel mit einer kleinen Vorschau präsentieren. Die Verlage werfen dem Anbieter vor, nichts für die Nutzung dieser Texte zu bezahlen und mit der Werbung, die die Suchmaschine um die Ergebnisse herum platziert, Geld zu verdienen. Wenn die Onlinedienste keine Lizenzen erwerben, dürften sie nur noch die Links zu den Artikeln veröffentlichen – ohne die übliche Vorschau auf die Texte. Kritiker*innen verweisen auf ein ähnliches Gesetzesvorhaben in Spanien aus dem Jahr 2014. Damals sorgte die Einführung eines solchen Leistungsschutzrechts dafür, dass Google seinen News-Dienst in Spanien einfach abschaltete und viele Internetseiten somit im Durchschnitt 10 bis 15 Prozent weniger Nutzer zählten. Eine solche Entwicklung sei nicht im Interesse der Presseverlage.
Artikel 13 bezieht sich auf die Haftbarkeit von Plattformen für die von ihren Nutzer*innen hochgeladenen Inhalte. Nach ihm müssten Plattformen wie YouTube oder Facebook Lizenzen mit Urheberrechtsinhabern, wie Filmstudios oder Plattenfirmen, abschließen. Ohne derartige Vereinbarungen seien die Plattformen verpflichtet, Urheberrechtsverletzungen bereits vor dem Upload zu verhindern. Es müsse vorab geprüft werden, ob hochgeladene Inhalte urheberrechtlich geschütztes Material, wie Ausschnitte aus Filmen oder Musikstücken, beinhalten. Kritiker*innen sehen in diesem Ansatz eine Einschränkung der Meinungsfreiheit. Aufgrund der enormen Menge an Inhalten, die täglich beispielsweise auf YouTube hochgeladen werden, müssten Uploadfilter eingesetzt werden. Die Entscheidungsgewalt darüber, welche Inhalte letztendlich hochgeladen werden, liege somit bei den Betreibern der Plattformen. Dadurch bestehe das Potenzial für Zensur.
Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Freiheit klaut
„Liebe YouTuber, liebe Twitcher, liebe Nerds, liebe Hacker, liebe Creator“, begrüßt der Veranstalter, Bruno Kramm von der Piratenpartei, die Demonstrant*innen am Potsdamer Platz. Er freue sich, dass so viele Leute erschienen sind, um für ein freies Internet und gegen Zensur zu protestieren. „Es heißt immer wieder das sei ein Ausdruck der Verdrossenheit gegenüber Europa. Nein, ist es nicht!“ Jeder vor Ort habe begriffen, dass es keine Welt mit „kranken Grenzen“ brauche. Man sei grenzenlos wie das Internet. „Und deshalb sind wir auch überzeugte Europäer. Und als überzeugte Europäer fordern wir, dass wir gehört werden, wenn ein Urheberrecht verabschiedet wird, das uns betrifft.“ Die Menge applaudiert und stimmt mit ihm zusammen in einen Sprechchor ein: „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Freiheit klaut.“
Als der Lautsprecherwagen in die Köthener Straße einbiegt erhält „HerrNewstime“ das Wort. Er appelliert an den Zusammenhalt von „Content-Creatorn“ und Internetnutzer*innen. Viele YouTuber seien ungewiss, ob sie in Zukunft immer noch populärkulturelle Inhalte behandeln können und ihre Videos so wie bisher produzieren können. Davon seien die Zuschauer*innen ebenfalls betroffen, wenn sie auf ihre Lieblingsinhalte verzichten müssten. Mit seiner lauten Stimme und seiner kämpferischen Rhetorik scheint er bei vielen Teilnehmer*innen der Demonstration ein Gefühl der Verbundenheit auszulösen. „HerrNewstime“ ist davon überzeugt, dass sich Artikel 13 lediglich für die großen Konzerne ausspreche, die kleinen Firmen und Creator jedoch nicht berücksichtigt würden und man deshalb zusammenhalten müsse. Außerdem müsse man Axel Voss und der CDU zeigen, dass man eine solche Reform ablehne und für einen Ausgleich der Interessen einstehe. Seine Message: Wir hier unten gegen die da oben. Die Masse tobt und ruft im Chor: „Nie mehr CDU, nie mehr CDU.“
Artikel 13 und der Uploadfilter
Unter musikalischer Beschallung zieht der Demonstrationszug weiter in Richtung Landwehrkanal. Als der Lautsprecherwagen in das Hallesche Ufer einbiegt ertönt ein Rock-Song, der eigens für die Demonstration komponiert wurde: „Das Copyright funktioniert nicht und die Lösung heißt KI. Wir brauchen diese Uploadfilter, dann wird alles gut wie nie.“ Melchior Bläse vom Bundesverband für Communitymanagement äußert sich kritisch über die negativen Auswirkungen der Urheberrechtsreform auf Leute, die soziale Medien für ihre berufliche Tätigkeit nutzen. „Ich stehe hier, weil Artikel 13 nicht nur meinen Job bedroht, sondern auch den von vielen Kollegen.“ Mit Artikel 13 seien Onlineplattformen verpflichtet, dafür zu sorgen, dass urheberrechtlich geschütztes Material überhaupt hochgeladen werde. Dies sei technisch nur mit Uploadfiltern möglich. Es gehe nicht nur um die „großen Player“ wie YouTube und Facebook, diese könnten sich die Uploadfilter im Zweifelsfall leisten. Besonders kleine Plattformen würden durch Artikel 13 in ihrer Existenz bedroht.
Vor dem Willy-Brandt-Haus kommt der Zug zum Stehen. Von den Balkonen der umstehenden Wohnhäuser schauen Leute herunter und jubeln der Menge zu. Währenddessen wird auf der Bühne der Kölner Medienrechtsanwalt Christian Solmecke fast wie ein Star angekündigt. Er ärgere sich über verleumdende Politiker, die Gegner*innen der Urheberrechtsreform teilweise als „Bots“ bezeichneten und die Proteste damit als illegitim darstellten. Solmecke kritisiert ebenfalls die Auswirkungen von Artikel 13. Seiner Meinung nach seien die Lizenzen mit den großen Verlagshäusern und Rechteverwertungsgesellschaften gar nicht das größte Problem. Es sei allerdings unmöglich für YouTube, Facebook und Co., Lizenzen aller Internet*nutzerinnen weltweit zu erwerben. Dies sei durch Artikel 13 nämlich notwendig, da nur so alle potenziellen Urheber*innen von im Internet verbreiteten Inhalten berücksichtigt würden. „Artikel 13 ist so, als wenn ein Mensch ein Auto klaut, es in meiner offenen Garage abstellt und ich dann als Dieb verklagt werde.“ Es ginge nicht in Ordnung, dass Plattformen des Diebstahls bezichtigt würden.
Nach der Kritik bietet er auch einen Gegenvorschlag an. Es sei möglich, privat zum Beispiel CDs legal auszutauschen, obwohl dadurch offensichtlich Profiteinbußen bei Musik-Labels entstehen. Dafür gebe es bereits gewisse Pauschalabgaben, die man ins digitale Zeitalter übertragen müsse. Google und andere große Internetplattformen sollten in einen Topf einzahlen, damit das „Sharing“ kompensiert werde.
Der Frust über das Unverständnis der Politiker
Die Demonstration zieht weiter durch das Regierungsviertel in Richtung Brandenburger Tor. Auf dem Protestschild eines jungen Demonstranten ist der Spruch „Rettet das Neuland“ zu lesen. Er sei genervt davon, dass überwiegend „alte Leute“ bei dem Gesetzgebungsverfahren involviert gewesen seien und die Bedürfnisse von jungen Menschen nicht berücksichtigt worden seien. Auch Felina (13) ist der Meinung, dass ein Generationenkonflikt besteht: „Ich glaube die Politiker wissen gar nicht, was das Internet für uns ist. Man kann wirklich sagen es ist eine Art Kultur von uns, von der Jugend.“ Für Anna (15) hat das Internet eine noch größere, vor allem persönliche Bedeutung: „Das Internet ist mein Zufluchtsort. Ich liebe es und ich will es nicht verlieren. Wer keine Ahnung hat, wo sein Platz in der richtigen Welt ist, der findet ihn im Internet.“
Viktor Schlüter von der Initiative „Digitale Freiheit“ ist ebenfalls der Meinung, dass auf die Interessen von großen Konzernen und Verwertungsgesellschaften gehört worden sei, aber „nicht auf uns“. Andererseits habe die EU auch gute Gesetze für das Internet gemacht. Er ruft in die Menge: „Welches Internet wollen wir haben? Es geht um unsere Kultur.“ Die Demonstrant*innen antworten im Chor: „Schützt die Kultur, gegen Zensur.“
Der Kampf geht weiter
Am Brandenburger Tor versammeln sich die Demonstrant*innen vor der aufgebauten Bühne für die Abschlusskundgebungen. Nach Angabe des Veranstalters sind es allein in Berlin mittlerweile 40.000 Leute, die auf die Straße gegangen sind. Markus Reuter von der NGO Netzpolitik ist sich sicher, dass alle Gegner*innen der Reform in dem gemeinsamen Protest wertvolle Erfahrungen gewonnen haben, auch wenn sie die Abstimmung verlieren sollten. „Wir lassen uns davon nicht aufhalten, denn wir wissen, dass die CDU am Dienstag zehntausende Wähler verlieren wird.“ Die Menge applaudiert und skandiert: „Nie mehr CDU, nie mehr CDU.“
Den letzten Redebeitrag übernimmt Pascal Fouquet von der Initiative „Save The Internet“. Für ihn ist es bitter, dass es eine Kampagne wie die von „Save The Internet“ überhaupt geben muss. Viel früher hätte die Reform verhindert werden müssen. Sein Aufruf an alle Anwesenden ist demnach: „Werdet aktiv!“ Man müsse sich in Interessenverbänden und Parteien organisieren, um zu verhindern, dass solche Ideen überhaupt erst auf den Weg kommen. Man müsse selbst die Zukunft gestalten. Im Licht der letzten Sonnenstrahlen schließt Bruno Kramm die Veranstaltung: „Wir kämpfen weiter für ein freies Internet, denn das ist unsere Zukunft.“
Am 26. März um 12:30 Uhr ist es dann soweit. Das Europaparlament nimmt die Urheberrechtsreform mit 348 Ja-Stimmen zu 274 Nein-Stimmen an. Axel Voss atmet erleichtert auf, als der EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani das Ergebnis verkündet. Dominic Kis von „Save The Internet“ bedauert, dass die Proteste nicht erhört wurden und die Reform nun mit den umstrittenen Artikeln verabschiedet wurde. „Die Rechnung werden sie halt bei den Wahlen bekommen, von den Leuten, die jetzt übergangen wurden.“ Andererseits ist er aber erfreut über den „demokratischen Protest“ und die damit gewonnenen Erfahrungen. „Nicht aufgeben und weitermachen“ ist jedenfalls Kis‘ Motto. Bis die EU-Richtlinie in nationales Gesetz gegossen ist, wird sicherlich noch einige Zeit vergehen.