Alisa Vinogradova bezeichnet sich selbst als „Sextremistin“. Die ukrainische Aktivistin ist leidenschaftliche Feministin und Mitglied von FEMEN. Wegen provokativer Oben-Ohne-Aktionen muss sie sich in der Ukraine vor Gericht verantworten. Das Patriachat, sagt Alisa, könne man nur mit seinen eigenen Waffen schlagen. Sex wird so zum Kampf, nicht um Gleichberechtigung, wie Alisa betont, sondern um die Vorherrschaft der Frauen

Für das Interview mit der UnAuf hat Alisa Vinogradova das Café gewählt, in dem sie letztes Jahr von der Privatpolizei des amtierenden Präsidenten Poroschenko gekidnappt worden ist. „Dieser Ort ist etwas Besonderes für mich“, lässt sie uns im Vorfeld wissen. Hier treffe sie sich immer mit Journalist*innen. Wir sind nicht überrascht, als wir erfahren, dass die 26-Jährige Aktivistin im Marketing arbeitet. Ihr Auftritt ist perfekt inszeniert.

Im Februar 2018 machte Alisa zuletzt die westeuropäische Presse auf sich aufmerksam. Sie hatte sich eine Karte für den Wiener Opernball besorgt, um auf dem High-Society-Event gegen den ukrainischen Präsidenten zu protestieren. Nachdem Petro Poroschenko die Wiener Staatsoper betreten hatte, ließ sie ihren Pelzmantel auf den roten Teppich fallen. „Poroschenko, get the fuck out“ hatte sie auf ihren Oberkörper geschrieben. „Fuck Poroschenko“ schrie sie den Fotografen entgegen. Es dauerte keine halbe Minute, bis sie von der Polizei abgeführt wurde. Die Aktion sollte ihr bislang medienwirksamster Protest werden. Alisa ist sichtlich stolz, als sie uns davon erzählt. Einen Polizisten habe sie nochmal gebeten, ihren bei der Aktion verlorengegangenen High Heel zu suchen. Sie sei halt eine Cinderella, sagt sie.

Im Dezember 2017, nicht lange vor dem Opernball, hat Alisa die Krippe auf dem Petersplatz in Rom gestürmt und dabei das Jesuskind an sich gerissen, bis die Schweizer Garde ihre Aktion beendete. „Assaulted by Church“ hatte sie auf ihren nackten Oberkörper geschrieben.

Einen Monat davor wiederum protestierte sie vor einer Roshen-Filiale, die zum Schokoladenimperium von Poroschenko gehört. Daraufhin hatten seine privaten Sicherheitskräfte sie verschleppt. Zwei Tage lang war sie inhaftiert, bevor sie wegen Vandalismus angeklagt worden ist. Alisa droht seitdem eine mehrjährige Haftstrafe, was sie weder von ihrer Aktion auf dem Opernball, noch von der im Vatikan abgehalten hat.

Warum setzt sich Alisa freiwillig dieser Gefahr aus?

„Ich befinde mich auf einer Mission und diese Mission heißt FEMEN“, erklärt sie und ihre grünen Augen funkeln. „Ich kämpfe für eine bessere Zukunft in diesem Land und meine Proteste sind für mich die effektivste Methode mein Ziel zu erreichen.“

Das Patriarchat als Keimzelle des Bösen

Alisa sagt, dass FEMEN die Keimzelle des Bösen im globalen Patriarchat ausmacht. Alle gesellschaftlichen Institutionen, egal ob Politik, Familie oder Kirche, sind ihr zufolge von patriarchalischen Strukturen durchdrungen. In dieser Männerwelt bekämen Frauen ihren Platz zugewiesen und seien nichts weiter als Objekte der Sexualität und erotische Wunschfantasien. Deshalb, so Alisa, sei der nackte Protest von FEMEN so wichtig: „Wir bringen die Rituale des Patriarchats durcheinander. Wenn wir uns nackt in politische Veranstaltungen begeben, wo die männlichsten aller Politiker, wie Putin, Berlusconi oder Trump auftauchen, dann stören wir das System!“

FEMEN ist 2008 in der Ukraine von drei jungen Frauen gegründet worden. Eine von ihnen, Oksana Schatschko, hat sich im Sommer in Paris das Leben genommen. 2016 hat Alisa eine der FEMEN-Gründerinnen kennengelernt, sie tauschten sich aus, über Feminismus und Frauenrechte in der Ukraine. Alisa war schnell von der Mission überzeugt. Zuerst unterstützte Alisa FEMEN nur organisatorisch, später dann als Aktivistin mit dem vollen Programm.

Für Alisa ist FEMEN die „wahrhaft feminine Revolution“. Feminismus in der Ukraine ist dabei etwas ganz anderes als der intersektionale Third-Wave-Feminismus, der den westlich geprägten feministischen Mainstream dominiert. Die Ukraine bewegt sich auf einer ganz anderen Zeitachse als Mitteleuropa, die Liberalisierung der Sechziger, die im Westen als zweite Welle des Feminismus gilt, gab es hier nicht. „FEMEN ist unsere zweite Welle. Vor FEMEN hat niemand in der Ukraine von Feminismus geredet.“  

Im Gegensatz zu liberalen Feministinnen, sagt Alisa, wollen FEMEN-Aktivistinnen keine Männer werden, sondern feiern ganz bewusst ihre Weiblichkeit. Stolz erzählt sie uns, wie FEMEN die globale Pop-Kultur geprägt habe. Marken wie Cartier oder Fabergé hätten FEMEN-Motive in ihren Designs und Werbekampagnen genutzt. Nackte Frauenkörper vermarkten mit Werbesprüchen auf ihren Brüsten Luxusschmuck? Für Alisa steht das nicht im Widerspruch zu ihrer Mission, sondern verdeutlicht den Einfluss FEMENs auf die Popkultur.

Alisa Vinogradova vor ihrem Lieblingscafé

„Frauenrechte sind wichtig, aber wahrscheinlich erst im nächsten Jahrhundert zu verwirklichen“

Hat FEMEN die Situation der ukrainischen Frauen verbessert? „Feminismus und Frauenrechte sind natürlich wichtig, aber wahrscheinlich erst im nächsten Jahrhundert zu verwirklichen“, erklärt Alisa nüchtern. Im Moment gebe es keine politische Kraft, die Frauen angemessen im Parlament repräsentieren würde. Julia Timoschenko sei zwar biologisch gesehen eine Frau, aber faktisch sei sie ein Mann und fester Bestandteil des patriarchalischen Systems, sagt Alisa. „In der Ukraine geht es in der Politik eigentlich noch um was ganz Fundamentales. Es geht um Menschenrechte, denn Aktivisten und Medienmacher sind hier nicht sicher“, sagt Alisa, „Poroschenko und sein diktatorisches Regime müssen weg. Wir leben hier in der Ukraine wie im Mittelalter.“

Der Glaube an ihre Mission sei ihr Antrieb, das wiederholt Alisa wieder und wieder. Aber hat sie nicht auch Angst?

„Es wird alles gut werden“, da ist sie sich sicher. Die Ukraine zu verlassen sei zwar eine Option, aber sie werde die Präsidentschaftswahlen abwarten. Im Angesicht einer Verurteilung würde sie politisches Asyl in Österreich beantragen. „Mir drohen sieben Jahre Haft. Ich könnte nach Wien gehen. Es ist witzig, alle Aktivisten, die gegen Poroschenko kämpfen, gehen dorthin, wie zum Beispiel Igor Guschwa, der Chefredakteur von strana.ua“. Strana.ua ist eine regierungskritische Website.

Alisa erzählt von ihren Aktionen, von den Repressionen gegen sie, als sei das alles nicht weiter bedrohlich. Was sagt ihr Umfeld dazu?

Alisa wohnt mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder zusammen in einer Wohnung in Kiew, ihre Eltern sind damals, als Alisa studieren wollte, extra mit ihr nach Kiew gezogen. Ihre Familie habe sich mittlerweile an ihre Arbeit für FEMEN gewöhnt und unterstütze sie dabei.

Alisa hat Psychologie studiert und arbeitet in einer PR- und Marketing Agentur. Sie weiß, wie man Aufmerksamkeit generiert, wie man den perfekten Skandal inszeniert. „Natürlich müssen wir extrem sein, sonst hört uns unser Feind nicht“, sagt sie. FEMEN sei nicht zimperlich und wisse: SEX SELLS. Heiligt der Zweck die Mittel? Laut Alisa schon.

Sex sells: Aktivistinnen müssen schön sein

Wir wollen von Alisa wissen, ob man schön sein muss, um bei FEMEN mitzumachen. Sie antwortet ganz selbstverständlich: „Ja. Darauf basiert die Ideologie von FEMEN, wir sind Sextremistinnen. Im Patriarchat werden Frauen auf ein sexuelles Podest gestellt. Deshalb haben wir uns bei FEMEN dazu entschieden, von diesem Podest aus zurückzuschlagen und das patriarchale System damit zu entweihen. Das geht nur, wenn wir als sexuelle Objekte genau in solchen Kontexten auftauchen, wo uns Männer eigentlich nicht sehen wollen.“

Bleiben dann FEMEN-Aktivistinnen nicht trotzdem Sexobjekte – bloß in einem anderen Kontext? „Das stimmt“, sagt Alisa. „Das Patriarchat hört Frauen aber nur so zu. Bittest du einen Mann sich eine sexuelle Frau vorstellen, dann wird er an eine Frau wie Monica Bellucci denken. Versteht mich nicht falsch, ich sehe Frauen nicht nur als sexuelle Objekte. Aber der Punkt ist, dass der Protest gegen das Patriarchat nur dann effektiv ist, wenn Frauen demonstrieren, wenn Frauen aktiv werden, die so sexuell sind, wie sich das die Männer wünschen. Wir müssen das System mit den eigenen Mustern schlagen.“

Die nackten Brüste sind für Alisa essenziell. „Wir bringen das Thema auf den Tisch und zwar so, dass es wirklich wahrgenommen wird“, sagt sie. „Ich sehe FEMEN in der feministischen Tradition der Suffragetten. Als die Frauen Anfang des letzten Jahrhunderts ihr Wahlrecht einforderten, gingen sie auf die Straßen. Auch sie waren wütend und aggressiv. FEMEN geht wieder auf die Straße. Wir begnügen uns nicht mit trockenen feministischen Podiumsdiskussionen, Konferenzen und Büchern.“

Eine politische Vision für die Zukunft entwickelt Alisa bewusst nicht: „Wir sind keine Ärzte, die diese Gesellschaft heilen und verbessern werden. Wir sind der Schmerz.“