Natürlich Thoreau

Vor den Palästen standen die Hütten. Ein neues Buch aus der Reihe Naturkunden beim Berliner Verlag Matthes & Seitz widmet sich der Phänomenologie und Kulturgeschichte der Hütte – als Ort, an dem Menschen sein können

Es gibt einen Imperativ der Hütte. Er geht so: Die kleinste mögliche Grenze zwischen mir und den Anderen ist eine Bretterwand. Nicht bloß eine Bretterwand und nur eine Bretterwand, denn in groben Planken oder Baumstämmen, in den vier Wänden mit Dach, die eine Hütte braucht, steckt eigentlich schon alles. Sie machen den Unterschied zwischen Drinnen und Draußen, Haus und Wildnis, Ich und Außen. Sie ermöglichen ein Leben – irgendeines. Eine Tür ist gut, Fenster sind optional.

Je einfacher und kleiner eine Hütte ist, desto deutlicher scheint sie zu sagen: Das hier ist alles, was man zum Menschsein braucht, die kleinste mögliche Grenze. Davor liegt der Wald (Wildschweine und Regen), ein See (Mücken und Regen), oder einfach nur Brandenburg. Hütten sind deshalb so behaglich, weil sie das Wohnen auf diese kleinste Möglichkeit reduzieren. Das kann man sehr romantisch finden – und das ist es wahrscheinlich auch.

Die Journalistin Petra Ahne wohnt eigentlich in Berlin, aber irgendwann wollte sie raus. Ihr Mann und sie kauften ein Grundstück in Brandenburg, rissen den alten Bungalow, der darauf stand, einfach ab und ersetzten ihn durch ihren eigenen Entwurf mit viel Licht und sibirischer Lärche: Fünf mal sieben Meter für den Sommer, vielleicht ein mildes Wochenende im November. Bei dem Versuch einer modernen Hütte – der Entwurf stammt (wie immer) von einer befreundeten Architektin – entdeckt Ahne die üblichen Widersprüche bürgerlicher Imagination.

“Das Hüttenbuch sollte man niemandem schenken – außer sich selbst

Der Bau soll spurenlos und nachhaltig sein, aber wie viel Nachhaltigkeit steckt darin, 100 Jahre alte Bäume zu fällen? Klare Silhouetten, deshalb scharfkantige, keine abgeschrägten Holzbretter, von denen aber, sagt der Zimmermann, das Regenwasser nicht abfließen könne. „Wir wollen ein kleines einfaches Haus,“ schreibt Ahne, „aber wir hatten schnell gemerkt, dass es das nicht gab. Es gab nur Arten zu bauen, die sagten: Dies will ein kleines einfaches Haus sein.“ Und dann sind da noch die Hüttenbewohner. Keine Hütte ist wirklich leer, sie wird bewohnt von einer immer größer werdenden Zahl unheimlicher Vor- und Wiedergänger.

Hier, in Brandenburg, sind es unter anderem Gaston Bachelard, Adam und Eva, Marc-Antoine Laugier, Booker T. Washington, Ted Kaczynski, Le Corbusier, Henry David Thoreau – „als wir am Feldrand entlang auf unser neues Haus zurollten, fiel mir Henry David Thoreau ein, natürlich Thoreau“ – eine Gruppe Polarforscher und tote Hexen. In einer Ecke kauert Martin Heidegger und lauscht dem Schneesturm, der vor den Holzwänden seiner Hütte am Todtnauberg über den Schwarzwald fegt. Schließlich ist da noch cabinporn.com, ein zurzeit 246 Seiten langer Stream hochauflösender Hüttenfotographien, den sich manche Leute offenbar ansehen und der vor allem zeigt, dass die moderne Mensch-Hütten-Beziehung ziemlich kompliziert geworden ist.

Petra Ahne hat darüber dann ein Buch geschrieben und es diesen März in der von Judith Schalansky herausgegebenen Reihe Naturkunden bei Matthes & Seitz veröffentlicht. Das sind diese kleinen, hübschen Bücher, die jeder kennt, der schon einmal ein Geschenk für jemanden kaufen musste, dem man eigentlich nichts schenken kann. Das Hüttenbuch jedenfalls sollte man niemandem schenken – außer sich selbst. Es verspricht genau einen herrlichen Nachmittag mit Hüttenträumen, besonders dann, wenn die Lektüre vom eher schmuddeligen als herrlichen Berlin aus beginnt.

„Sind wir alle Schmuckeremiten?“ fragt Petra Ahne am Ende ihres Buches. Tatsächlich sind der Gang in die Hütte, die Etablierung eines sogenannten Hüttendaseins und -denkens ausgesprochen moderne Techniken des Selbst. Und zugegeben, die Existenz des übrigens völlig (und leider) jugendfreien cabinporn.com lässt die Ausbreitung ernsthafter Hüttenneurosen befürchten. Über Hütten zu lesen, kann aber auch zeigen, dass sie mehr sind als Ersatzhandlungen spätbürgerlichen Überdrusses: Ein Ort, an dem Menschen sein können; die Möglichkeit, ein Leben zu führen.


Petra Ahne: Hütten. Obdach und Sehnsucht (Naturkunden)
Matthes & Seitz Berlin, März 2019
132 Seiten, Gebunden. 28,00€