Rahel Jaeggi im Interview: „Studierende können immer etwas bewegen“

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200 Jahre Karl Marx und 50 Jahre 68. Können Studierende heute daran anknüpfen? Wie aktuell ist Marx noch? Ist SPD-Politiker und Reedereierbe Erck Rickmers der richtige Partner für solche Fragen? Ein Gespräch mit Dr. Rahel Jaeggi, Professorin für praktische Philosophie an der HU und Leiterin des 2018 gegründeten Center for Humanities and Social Change.    

UnAufgefordert: Warum sollten wir uns heute noch mit Marx beschäftigen?

Rahel Jaeggi: Ich glaube, dass es eine zunehmende Unruhe gibt. Nehmen wir die Finanzkrisen der letzten Jahre: Wir haben bemerkt, dass das mit unserem Leben direkt etwas zu tun hat und die ökonomisch sehr komplexen Zwänge, die auf uns ausgeübt werden, gar nicht so leicht zu verstehen sind. Sich mit Marx zu beschäftigen ist nicht der schlechteste Ansatz, um zu verstehen wie unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem aussieht und wie das eine auf das andere einwirkt. Marx hat nicht für jedes Rätsel der Welt die vollständige Lösung gefunden, das wäre ja auch absurd bei einer Theorie, die einen „Zeitkern“ hat. . Alleine mit Marx wird man also die uns interessierenden Probleme nicht lösen. Aber Marx ist einer der wichtigsten Sozialphilosophen, die wir haben.

Welche wichtigen Werkzeuge hinterlässt uns Marx?

Begriffe wir Ausbeutung und Entfremdung zum Beispiel. Die Einsicht, dass in kapitalistischen Gesellschaften Ausbeutung sich nicht per direkter, persönlicher Herrschaft, sondern strukturell gestaltet. Oder der Versuch, mit dem Entfremdungsbegriff ein Welt- und Selbstverhältnis zu beschreiben, in dem man fremden Mächten ausgeliefert ist und eine spezifische Form der Machtlosigkeit und  Ohnmacht herrscht, die wiederum nicht auf direkte Heteronomie zurückzuführen sind, sondern auf eine Art des Identifikationsverlustes, mit dem was man ist und tut – eine strukturell induzierte Unfähigkeit, sich zu dem was man will und tut und gesellschaftlichen Bedingungen, von denen das eigene Leben beeinflusst ist, in Beziehung zu setzen.

Oder seine Vorstellung von Freiheit: Für Marx ist Freiheit nicht nur die Abwesenheit von äußeren Zwängen, sondern etwas, das sich als soziale Freiheit in sozialen Praktiken und in Institutionen realisiert.  Auch eine bestimmte Art von Rechtskritik fällt darunter. Die Einsicht, dass formales Recht, formale bürgerliche Freiheit und Gleichheit, historisch zwar wichtig sind, aber dass in der kapitalistisch bürgerlichen Gesellschaft, Freiheit und Gleichheit gleichzeitig nicht verwirklicht sind und vielleicht auch systematisch nicht zu verwirklichen sind. Das ist der tiefe Widerspruch, den diese Gesellschaft durchzieht. Man denkt, „wir können hier alle vier Jahre wählen gehen und wenn ich vor Gericht gehe, habe ich doch das gleiche Recht wie jeder andere auch“.

Doch warum fühlt es sich trotzdem nicht so an, als ob das unsere Welt ist, die wir gestalten können? Das ist ein Rätsel, aber Marx gibt Hinweise dafür, warum das ein systematisches Problem ist. Marx war zwar nicht die erste, aber doch eine prominente Stimme, die festgestellt hat, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen einem demokratischen, selbst organisierten Gemeinwesen und der Dynamik der kapitalistischen Organisation gibt.

Was machen wir jetzt damit?

Was man mit Marx lernt, ist weniger, dass es ein Skandal ist, wie die Welt ist, etwa im Fall ökonomischer Ungleichheit. Sondern eine bestimmte Form der Kritik, eine nicht nur moralisierende Kritik. Das heißt, die Verhältnisse, die man skandalös findet, nicht einfach nur zu moralisieren, sondern diese zu analysieren und aus dieser Analyse heraus die Kritik zu entwickeln.

Als Leiterin eines neuen Forschungszentrums, das sich den Krisen der Demokratie und des Kapitalismus widmen soll, schauen Sie sich unsere Verhältnisse ganz konkret an. Wo setzen Sie dabei an?

Das Center beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Thema „Krisen des Kapitalismus und Krisen der Demokratie“. Dabei müssen wir auch die Frage nach der Vereinbarkeit von Demokratie und Kapitalismus neu stellen. Es hat eine, zu einem goldenen Zeitalter glorifizierte, Zeit der westlichen demokratischen Wohlfahrtsstaaten gegeben, in der die Vorstellung, dass man den Kapitalismus demokratisch zähmen könnte, sehr prominent war.

An dieser Parole der nachkriegsdeutschen Entwicklung ist – nicht nur, aber auch verursacht durch die Globalisierung der Problemlage – etwas ins Kriseln geraten. Es gibt ein paar Themenblöcke, die wir schwerpunktmäßig untersuchen, etwa das Thema Eigentum – mit durchaus auch ganz konkreten Implikationen, etwa im Zusammenhang mit dem Eigentum an Wohnraum und dem, was das mit unserem Zusammenleben macht.

Ein anderer Schwerpunkt wird das Thema Arbeit sein, entfremdete Arbeit. Prekarität, Pathologien gegenwärtiger Arbeit aber auch  die komplexe Frage, was die Rolle von Arbeit für gesellschaftliche Kooperation und für das individuelle Leben von Menschen ist – mit dem Ziel, eine kritische Perspektive auf gegenwärtige Arbeitsverhältnisse zu entwickeln. Nun werden solche Themen ja von vielen verschiedenen Wissenschaftler_innen untersucht und in ganz verschiedenen Wissenschaften.

Bei uns geht es um eine sozialphilosophische, am methodischen Zugriff, den Themen und Begriffen des Diskussionszusammenhangs der kritischen Theorie(n) orientierte Perspektive; das beinhaltet unter anderem, Kapitalismus nicht nur als Wirtschaftssystem, Demokratie nicht nur als Regierungsform, sondern beide in breiterer Perspektive als Lebensform zu untersuchen.

Wie kam der Kontakt zu Erck Rickmers zustande, der das Zentrum finanziert? Hat er Einfluss auf Arbeit oder Forschung?

Herr Rickmers ist auf mich zugekommen, hat mir von seinen Plänen erzählt und mich gefragt, ob ich bereit wäre, bei der Gründung eines solchen Instituts eine tragende Rolle zu spielen. Ich kannte Herrn Rickmers vorher nicht. Ich glaube, seine Idee beruhte alleine darauf, dass er Hinweise von verschiedenen Seiten bekommen und sich meine Bücher und die Arbeit an unserem Lehrstuhl angeschaut hat. Seit einiger Zeit schon organisieren wir verschiedene Veranstaltungen, die die Schnittstelle zwischen gesellschaftspolitisch interessanten Fragen und Philosophie beleuchten sollen.

Zu ihrer zweiten Frage: Herr Rickmers hat keinen Einfluss auf unsere inhaltliche Arbeit. Hier herrscht Freiheit der Wissenschaft, die auch vertraglich festgehalten ist. Das heißt, er sitzt zwar im Beirat und verfolgt, was wir tun, aber ohne Stimmberechtigung. Also ist es nicht so, dass wir hier Auftragsforschung machen, es wäre in diesem Fall ja auch schwer zu sehen, worin dieser Auftrag bestehen könnte.

Dieses Jahr markiert auch das 50. Jubiläum der 68er-Bewegung. Haben Sie das Gefühl, dass bei Ihren Studierenden die Sehnsucht nach einer Art Praxis herrscht?

Ich glaube schon. Aber nicht nur nach Praxis, sondern auch nach Theorie, die mit einer solchen Praxis verbunden ist, so wie das 1968 exemplarisch der Fall war. Das sieht man auch an dem enormen Zuspruch, den unsere jüngst veranstaltete Konferenz  zum Thema „Emanzipation“ mit 1200 Besucher_innen gerade bei jüngeren Teilnehmer_innen hatte. Diese Tagung war ja beides, der Versuch, den Begriff der Emanzipation wieder ins Spiel zu bringen und damit auch eine Reflexion auf das, was man als die Konstellation von 1968 begreifen kann, zu bieten.

Die Frage ist: Welche Rolle spielt emanzipatorisches Wissen und Theorie für eine ebensolche politische Praxis? Wie Horkheimer mal gesagt hat: Kritische Theorie ist die theoretische Seite des praktischen Prozesses der Emanzipation. Es ist nicht so, dass Theorie nur irgendwie informiert oder die normative Instanz ist, die sagt, was richtig und falsch ist. Sondern sie ist Teil dieses Prozesses, schon deshalb weil diejenigen, die diesen aktiv vorantreiben oder tragen ja gar nicht umhin können, sich in bestimmten Begriffen zu verstehen und weil das, was sie tun von einem bestimmten Selbstverständnis, das immer auch mit einer Interpretation der sozialen Welt in der wir leben, einhergeht,  verbunden ist.

Können Studierende auf theoretischer und praktischer Ebene heute noch etwas bewegen, oder ist das eine Illusion?

Jaeggi: Ich glaube, man kann immer etwas bewegen. Sie können jetzt sagen, „Wir mit unseren neuen Studiengängen haben nicht mehr so viel Zeit“. Aber um den Erhalt von Freiräumen trotz der stärkeren Verschulung des Studiums muss und kann man auch kämpfen. Gleichzeitig stecken Studierende selbst, vielleicht stärker als frühere Generationen, in den gesellschaftlichen Konflikten, etwa prekärer Arbeit, drin. Das ist ja nichts, was sich irgendwo ganz anders abspielt, während sie im privilegierten Elfenbeinturm studieren.

Sie haben nicht nur das Problem, wie sie ihr Studium finanzieren, sondern auch, in welcher Art von Arbeitsverhältnissen sie sich mit den hier erworbenen Kompetenzen überhaupt eine Zukunft vorstellen können. Ganz viele unserer Studierenden arbeiten ja in prekären Verhältnissen oder darauf hin. Es gibt alle möglichen gesellschaftlichen Konfliktfelder, in denen sie direkt involviert sind. Viele sind dahingehend sehr engagiert, außerhalb aber auch innerhalb der Universität. Universität kann dann so etwas wie ein gesellschaftlicher Reflexionsraum sein, in dem die Analyse aber auch das kritische Verhalten gegenüber den gesellschaftlichen Zuständen erprobt wird.