Mangelnde Prävention, fehlende Transparenz: Plagiate sind ein großes Problem an deutschen Universitäten. Besonders viele Fälschungen werden an den Berliner Hochschulen aufgedeckt – unternommen wird dagegen nur sehr wenig.

„Die HU hat ein Plagiatsproblem“, sagt Debora Weber-Wulff der UnAuf im Interview. Die gebürtige US-Amerikanerin ist Professorin für Medieninformatik an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin. Sie forscht beruflich zu Plagiaten. In ihrer Freizeit arbeitet sie für die Plattform „VroniPlag Wiki“, die Plagiate in wissenschaftlichen Arbeiten aufdeckt.

Der wohl bekannteste Plagiatsfall an der HU ist die Causa Marina Hennig. Die Soziologin plagiierte bei Dissertation und Habilitation. Bei der Dissertation waren Plagiate auf 43,5 Prozent der Seiten zu finden, bei der Habilitation sogar bei 70,2 Prozent. Aufgedeckt wurden die Täuschungen von „VroniPlag Wiki”. Es war das erste Mal in der deutschen Hochschulgeschichte, dass ein solches Doppelplagiat gefunden wurde. Die HU hat sich also zwei Mal betrügen lassen. Die Soziologin lehrt heute an der Uni Mainz, zu einer Stellungnahme war sie gegenüber der UnAuf nicht bereit.

Die Plattform „VroniPlag Wiki” setzt auf die Schwarmintelligenz der Nutzer. Sie hat 217 aktive Nutzer*innen und untersucht hauptsächlich Dissertationen. Anonym werden vermutete Plagiate dokumentiert. Jede*r kann mitwirken und Verdachtsfälle melden. Nach einer Verifizierung werden die Stellen in Fragmente unterteilt, die dann mit dem Originaltext verglichen werden. Dazu wurde ein Tool entwickelt, das online frei zugänglich ist: der „Similarity Checker“. Das Wiki gibt die Seiten mit gefundenen Plagiaten als Prozentzahl an. Dazu wird der Seitenanteil mit Plagiatsfunden am Gesamtumfang der Arbeit berechnet.

Debora Weber-Wulff, Foto: HTW Berlin/Nikolas Fahlbusch

Debora Weber-Wulff ist von Anfang an mit dabei. Unter dem Pseudonym „WiseWoman” hat sie seit 2011 bereits 12.998 Bearbeitungen getätigt und einige prominente Politiker in Erklärungsnot gebracht. Oft führen die „VroniPlag Wiki”-Dokumentationen zu Überprüfungen durch die Universitäten.

Copy, paste – fertig 

Durch ihre Arbeit bei „VroniPlag“ sind Weber-Wulff schon die dreistesten Plagiate aus der Humboldt-Universität auf ihrem Schreibtisch gelandet. „Teilweise sind in PDFs noch Wikipedia-Links zu finden“, erzählt sie. Ein Fall löst bei ihr noch heute besonders großes Kopfschütteln aus. 2010 promovierte die Ärztin Anita Lisowski an der Charité im Fachbereich Urologie. Dass zwei Jahre zuvor eine in Titel und Inhalt nahezu wortgleiche Doktorarbeit bei ihm eingereicht wurde, hatte Lisowskis Doktorvater damals offenbar nicht gestört. Der Doktortitel wurde ihr 2014 entzogen, nachdem das Plagiat bei VroniPlag entdeckt wurde. Der Spiegel titelte damals „Frau Doktor Dreist“. Heute betreibt sie eine Privatpraxis für Urologie in Berlin. Den Doktortitel trägt sie nicht mehr.

Weniger genau nimmt es ein anderer Plagiator: Dem gebürtigen Nürnberger Zahnarzt Fotios Exarchou wurde 2014 zwar ebenfalls nach Veröffentlichung bei „VroniPlag Wiki” der Doktortitel in Zahnmedizin von der Charité aberkannt, doch das scheint ihn nicht weiter zu stören. Auf der Website für seine Zahnarztpraxis in Griechenland wirbt er immer noch stolz mit seiner Promotion an der Charité.

Nicht nur Sanktion, sondern Prävention

Der Menge an Plagiaten an der HU begegnet die Professorin mit Unverständnis: „Bei einer Exzellenzuniversität muss so etwas auffallen“, sagt Weber-Wulff. 40 der insgesamt 204 von „VroniPlag“ untersuchten Dissertationen und Habilitationen von in- und ausländischen Universitäten stammen von HU und Charité, rund ein Viertel aller aufgedeckten Plagiate sind aus dem Land Berlin. Da „VroniPlag“ nur stichprobenartig untersucht, liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei den gefundenen Arbeiten nur um die Spitze des Eisbergs handelt.

„Die HU muss anfangen, offen über das Problem zu sprechen. Momentan will sie das nicht. Das geht nicht“, sagt Weber-Wulff. An anderen Universitäten ist man der Problematik offensiv begegnet. In München, Freiburg und Mainz wurden zentrale Stellen gegründet, um akademisches Fehlverhalten vorzubeugen und zu sanktionieren. Für Weber-Wulff ist das genau der richtige Schritt: „Wir müssen nicht nur sanktionieren, sondern auch Prävention betreiben. Gute wissenschaftliche Arbeit muss vorgelebt werden.“ Aktuell würde die Problematik eher totgeschweigen. Für die HU scheinen also nicht die Plagiate, sondern deren Bekanntwerden das eigentliche Problem zu sein.

Anders als Weber-Wulff hält Michael Seadle Plagiate für ein nicht ganz so großes Problem in der Wissenschaft. Seadle ist pensionierter Professor für Bibliothekswissenschaften und Vorsitzender der „Kommission zur Überprüfung von Vorwürfen wissenschaftlichen Fehlverhaltens” an der HU. „Plagiate sind ein ethisches Problem, ein urheberrechtliches Problem, aber sie untergraben die Wissenschaft nicht wie Fälschung“, sagt er. Dennoch sollten Plagiate bekämpft werden.

Auf Nachfrage gesteht er ein, dass die HU ein Problem im Umgang mit Plagiatsfällen hat. „Wir sind nicht transparent, das gebe ich zu“, sagt der Kommissionsvorsitzende im Gespräch mit der UnAuf. In der Satzung der Kommission ist festgelegt, dass jegliche Kommunikation über spezifische Fälle nur vom Präsidium ausgehen darf. Ob ein Fall also von öffentlichem Interesse ist, liegt in der Entscheidungsgewalt der Präsidentin.

Mehr als Wortüberschneidungen

Diese Richtlinie diene auch dem Schutz der Menschen, die fälschlicherweise angeklagt sind. Plattformen wie „VroniPlag Wiki” kritisiert der Professor: „Was dort ganz transparent veröffentlicht wird, schadet der Karriere vieler Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Ich wäre da persönlich vorsichtiger“, sagt Seadle. „Verdachtsfälle müssen überprüft werden, oft können Personen von den Vorwürfen entlastet werden”, fügt er hinzu. Die Pressestelle der HU sieht es ähnlich. “Die zum Teil langwierigen Verfahren bei Plagiatsvorwürfen verdeutlichen die Komplexität der Prüfung. Bis zum Abschluss eines solchen Verfahrens gilt allerdings, wie in jedem anderen juristischen Fall auch, die Unschuldsvermutung”, so Boris Nitzsche, stellvertretender Pressesprecher der HU.

Ein aberkannter Doktortitel ist auf den entsprechenden Institutsseiten zwar vermerkt, in den Arbeiten allerdings nicht. Der Vermerk der Aberkennung in Bibliotheksexemplaren geschehe in vielen Fällen nicht oder viel zu spät, beklagt Debora Weber-Wulff. Im Vergleich zu anderen Bibliotheken wird der Zugriff auf dem Open-Access-Publikationsserver der Humboldt-Universität nicht verweigert. So beispielsweise bei Marina Hennig oder Weizhong Yi, der 2009 an der Juristischen Fakultät promovierte. Bei Hennig ist sogar kein Vermerk zu finden, weil derzeit noch eine Klage gegen den Entzug anhängig ist. „Wenn Fälle schon veröffentlicht sind, sollten wir transparenter sein“, sagt Prof. Seadle.

Michael Seadle. Foto: Thorsten Beck

Ein Problem sei auch, dass in der Kommission zur Überprüfung wissenschaftlichen Fehlverhaltens keine Expert*innen sitzen. Bei ihrer Gründung wurde sie aus Professor*innen der HU zusammengesetzt, keine externe Person hat einen Sitz inne. Dass die aktuelle Satzung Mängel aufweist, gesteht Seadle ein. Zur geringen Transparenz sagt er, der damals schon in der Kommission saß: „Vielleicht hätte ich schon bei der Veröffentlichung der Satzung darauf aufmerksam machen können, allerdings hatte ich wenig Erfahrung.“

Um in Zukunft professioneller mit der Überprüfung von wissenschaftlichen Arbeiten und Verdachtsfällen umzugehen, spricht sich Seadle für eine externe Stelle an der HU aus: „Wir brauchen Profis für die Analyse.“ Eine solche Stelle sei in der Planung: „Das Problem ist dem Präsidium bewusst und die Uni sucht eine intelligente, machbare Lösung, die Studierende schützt und auch die Uni schützt”, sagt Seadle. Eine Idee seien außerdem Workshops, um die Plagiatsfälle besser zu verstehen und zu messen, so Seadle. Sein Ziel sind jedoch universitätsübergreifende, einheitliche Standards zur Plagiatsaufklärung: „Ich würde gerne Standards setzen”, sagt Seadle. Dies benötige eine Methode, anhand derer eine Wortüberschneidung spezifischer gemessen
und eingeordnet werden könne.

HU-Dozent*innen sind auf ihr Gespür angewiesen

Im Berliner Abgeordnetenhaus wurden die Plagiate an Berliner Unis bereits im November 2018 diskutiert. Der Berliner Staatssekretär für Wissenschaft und Forschung Steffen Krach (SPD) äußerte sich zur Plagiatssituation an den Berliner Unis, nachdem eine Kleine Anfrage des Vorsitzenden des Wissenschaftsausschusses, Martin Trefzer (AfD), erfolgt war. „Typische Anhaltspunkte sind Stil- oder Layoutbrüche, wechselnde Rechtschreibung bei Fachbegriffen, die Nutzung unterschiedlicher Formeln, Symbole oder Legenden für denselben Sachverhalt, unterschiedliche Arten von Quellenangaben und Unstimmigkeiten im Quellenverzeichnis”, so der Staatssekretär. Bestehe ein Plagiatsverdacht, erfolge ein Abgleich mit bekannten Literaturquellen oder mithilfe von Suchmaschinen. Teilweise werde auch im Rahmen von Verteidigungen der Arbeiten geprüft, ob der Prüfling das methodische Vorgehen und die Ergebnisse der Arbeit selbstständig begründen könne.

Heißt konkret: Haus- und Abschlussarbeiten gehen an der HU in der Regel nicht durch Plagiatssoftwares. Solche Hilfsprogramme werden zur Erkennung von Wortüberschneidungen eingesetzt. Was in Frankreich, Großbritannien und den USA längst zum Uni-Alltag gehört, wird in Berlin und auch Deutschland nicht flächendeckend eingesetzt. Denn: Arbeiten von Studierenden dürfen aus Datenschutzgründen nicht zentral gespeichert werden. Bisher sind die HU-Dozenten auf ihr Gespür angewiesen, um Plagiate zu entdecken.

Die Software nur als Ergänzung zum Lesen

Das mühselige Verfahren ließe sich, so Seadle, beschleunigen, indem rechtlich festgelegt würde, dass beim Einreichen der Arbeit die automatische Erlaubnis zur Veröffentlichung erteilt wird. „Das ist dann ein sehr systematisches Vorgehen“, sagt der Professor. „Ich habe nichts dagegen, solange die Rechte der Studierenden geschützt sind.“ Von Zwangsexmatrikulationen ab einer bestimmten Prozentzahl an plagiierten Stellen hält der Wissenschaftler nichts. Zusätzlich zu einer Software brauche es jemanden, der genug von den Fehlern solcher Systeme versteht. „Ich möchte nicht direkt Leute als schuldig bezeichnen, sondern Schuld verstehen und Autoren verteidigen“, sagt Seadle. Die Entscheidung, ob es sich bei einer Arbeit um ein Plagiat handelt, müsse bei einem Menschen liegen.

„Es gibt keine Software, die das leisten kann, und es wird auch keine geben”, sagt Debora Weber-Wulff während einer Anhörung vor dem Abgeordnetenhaus im November 2018. Sie sieht den Ball bei den Universitäten. „Wir können der Software nicht glauben, wir können nicht die Verantwortung an die Software abgeben, sondern die Verantwortung muss bei den Hochschulen bleiben.” Was diese tun können? Sie müssen darüber sprechen, sagt Weber-Wulff.

Eine Anfrage der UnAufgefordert zu diesem Thema hat Präsidentin Sabine Kunst nicht beantwortet. Von der Pressestelle erreichte uns ein Tag nach der gesetzten Frist folgende Stellungnahme: „Auch an der HU sind wir uns der Problematik sehr bewusst. Es wurden Maßnahmen ergriffen wie beispielsweise ein erweitertes Informations- und Kursangebot für Promovierende, weitere sind in der Erprobungsphase”, so Boris Nitzsche. Zu Recht merke Frau Professorin Debora Weber-Wulff an, dass einfache Mittel wie die zentrale Einführung einer Software nicht immer das Allheilmittel seien.

Ein weiteres Problem liegt laut Weber-Wulff bei den Ressourcen der Dozierenden. „Es ist natürlich gut, wenn sie Plagiatssoftware nutzen, für den Ernstfall, wenn ein Dozent Schwierigkeiten hat, aber insbesondere müssen sie die Arbeiten lesen”, sagt sie. Es gehe nicht an, dass über die Arbeiten nur kurz geschaut werde. „Sie müssen wirklich gelesen werden – und dazu braucht man Zeit, und das ist etwas, von dem wir an den Hochschulen sehr wenig haben.”

In der Konsequenz heißt das: Die HU weist Mängel in der Prävention von Plagiaten auf. Für die Überprüfung von wissenschaftlichen Arbeiten gibt es an der Universität keine einheitlichen Standards. Außerdem gibt es keine zentrale Stelle mit Expert*innen für Verdachtsfälle und keine Erkennungssoftwares zur Unterstützung der Aufdeckung. Bestätigte Plagiatsfälle werden nicht öffentlichkeitswirksam von der Universität diskutiert und mangelhaft dokumentiert.

Oft plagiieren Studierende, ohne es wirklich zu wollen. Wie solche unabsichtlichen Plagiate verhindert werden können, erklärt UnAuf-Redakteurin Isabella Falkner hier.