Für den Titelartikel der letzten UnAuf Print-Ausgabe zum Thema #MeToo waren wir zu Besuch bei LARA in Berlin-Schöneberg, wo wir Fragen rund um die Themen Belästigung, sexualisierte Gewalt und Feminismus stellen konnten. Hier ist nun Teil 1 des Interviews mit Carola Klein, Beraterin und zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit bei LARA

UnAuf: Wie sind Sie persönlich zu dieser Beratungsstelle gekommen?

Carola Klein: Ich habe früher mit Mädchen gearbeitet und dann mit drogenabhängigen Frauen, von denen fast 90 Prozent Prostituierte waren, also von der Straße. So ziemlich hinter jeder Geschichte stand dort sexueller Missbrauch, alltägliche Gewalt oder Vergewaltigung. Zum großen Teil waren diese Drogen ein Bewältigungsversuch für die Frauen, sexuelle Gewalt nicht fühlen zu müssen, nicht konfrontieren zu müssen. Ich kannte LARA schon und dachte mir irgendwann, dass ich dort dann vielleicht mal an die Ursachen herankomme, nicht nur an die an die Symptome.

Wie lange gibt es diese Institution jetzt schon? Und wie war die Gründungsgeschichte?

LARA gibt es jetzt schon seit 22 Jahren und war ursprünglich eigentlich eine Art Frauennotruftelefon von Feministinnen, die das ehrenamtlich und auf eigene Initiative ins Leben gerufen haben. Als dann in den 90ern Frau Bergmann (Anm. d. Red.: gemeint ist Dr. Christine Bergmann, 1991 bis 1998 Berliner Senatorin und von 1998 bis 2002 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) in der damaligen SPD-Regierung sehr viele Projekte in diese Richtung unterstützt hat, profitierten viele Frauenprojekte davon, unter anderem auch LARA.

Wie sieht ihr Arbeitsalltag aus?

Sehr vielfältig, einerseits mache ich natürlich die persönliche Beratung, aber auch Krisenintervention, Frauen können also auch in einer Krise direkt zu uns kommen. Wir haben außerdem eine telefonische Hotline, bei der Frauen anrufen können und Beratung erhalten, und dann habe ich auch sehr viel mit der Öffentlichkeitsarbeit zutun. Ich gebe zum Beispiel Interviews, mache die meisten Flyer und alle Publikationen, aber Gott sei Dank nicht ganz alleine. Meine Arbeit kann also sehr unterschiedlich sein, ich muss dann auch immer mehrere Perspektiven einnehmen können.

Auf Ihrer Homepage steht, dass viele der Mitarbeiterinnen hier einen psychologischen Hintergrund haben, also Psychologie oder soziale Arbeit oder etwas in der Art studiert haben.

Ja genau, wir sind alle entweder Sozialpädagoginnen, Sozialarbeiterinnen oder eben Psychologinnen und es ist auch wichtig, eine therapeutische Zusatzausbildung zu haben. Wir haben auch teilweise unterschiedliche Hintergründe, aber das Themengebiet, mit dem wir uns hier am meisten beschäftigen, ist die Traumatherapie. Die meisten Frauen, die zu uns kommen, sind traumatisiert, von nicht ganz so schwer bis hin zu schwerst-komplex, hier existiert demnach eine große Brandbreite. Wir müssen uns also mit Traumata und ihrer Behandlung auskennen und immer weiter fortbilden, das ist eine Voraussetzung.

Wie würde eine erste Sitzung oder Beratung aussehen?

Das ist unterschiedlich, wir haben kein festgelegtes Programm für jede Frau. Erstmal möchten wir wissen, was sie möchte und was sie nicht möchte, sie muss auch nicht alles erzählen. Sie sollte aber natürlich die Informationen geben, von denen sie denkt, dass wir sie brauchen, um ihr weiterzuhelfen. Zunächst ist das wichtigste, dass sie sich stabilisiert und immer auch selbst entscheiden kann, wie es weitergehen soll. Es können Fragen geklärt werden, zum Beispiel ob sie eine Anzeige erstatten will. In der ersten Beratung fragen wir, was die Klientin braucht und auch ob sie freiwillig hier ist, es kommt vor, dass vor allem bei jungen Frauen die Eltern ziemlich darauf drängen, dass ihre Töchter zu uns gehen, diese das aber manchmal gar nicht wollen.
Wir stellen dann unser Angebot vor und dann kann sie sich selbst entscheiden, ob sie unsere Unterstützung möchte. Wir bieten einen Rahmen an, von generell zehn Terminen zur Stabilisierung und um danach den nächsten Schritt machen zu können. Das ist unser Hauptangebot, aber in Krisensituationen kann man auch nach Absprache verlängern und in der Beratungsstelle vorbeikommen.

Vermitteln sie die Frauen dann auch weiter an Therapeutinnen?

Ja, obwohl es auch nicht immer ganz einfach ist, eine Therapeutin zu finden. Wir haben Listen mit verschiedenen Möglichkeiten und unterstützen Frauen, die richtige Therapeutin für sich zu finden, weil die Suche oftmals eine sehr hohe Belastung darstellt. Mit Wartezeiten umzugehen oder abgewiesen zu werden, kann sehr schwierig sein. Ich sehe auch eine meiner Aufgaben darin, Frauen, die noch nie eine Therapie gemacht haben, zu beraten, damit sie eine Vorstellung davon bekommen, wie eine Therapie sein könnte und woran sie merkt, dass sie gut aufgehoben ist.

Sind diese TherapeutInnen denn immer weiblich?

Ja, wir führen ein Verzeichnis von Therapeutinnen, die sich mit dem Thema sexualisierte Gewalt beschäftigt haben und zum Teil spezielle Fortbildungen zum Beispiel in Traumatherapie vorweisen können.  Erfahrungen mit den Folgen von sexualisierter Gewalt und sexuellem Missbrauch sind sehr wichtig um adäquat unterstützen zu können.  Dazu gehört auch ein feministisches Grundverständnis. Wir achten darauf, nur solche Therapeutinnen zu empfehlen, die sich mit diesem Thema auch beschäftigen wollen.

Ein großes Thema bei der gesamten Sexismus-Debatte ist ja die vor allem auch von Männern getätigte Aussage: „Irgendwo sind Frauen auch selbst schuld.“ Kommen viele Frauen zu Ihnen, die selbst denken, sie wären schuld an dem, was passiert ist?

Die meisten Opfer von sexuelle Übergriffen haben Schuld- und Schamgefühle, auch wenn die Frauen das nicht immer äußern. Sie wissen zwar irgendwie, dass sie nicht schuld sind, haben aber trotzdem dieses Gefühl. Das hat bestimmte Hintergründe. Einer ist natürlich ein gesellschaftlicher, es nicht wahrhaben zu wollen, oder es gar nicht zu der eigenen Identität passen will, Opfer geworden zu sein. Ein sexueller Übergriff ist von einem Kontrollverlust geprägt. Und sich damit zu konfrontieren das ist sehr schwer. Scham und Schuldgefühle sind dann für das eigene System erstmal leichter auszuhalten, Das gilt auch für die Frauen, die versucht haben, sich zu wehren, und sogar für die Frauen, die sich erfolgreich gewehrt haben. Wenn das Leben bedroht wird, greift ein simples Notfallprogramm: kämpfen, flüchten oder erstarren. Das ist genetisch, also biologisch festgelegt. Es läuft einfach so ab, ohne dass man darüber nachdenken muss. Die Reaktion fällt dann so aus, wie bestimmte Parameter verarbeitet werden, und wir haben keinen Einfluss auf die Reaktion. Nach einem traumatischen Erlebnis ist oft das eigene Verhalten in der Situation nicht mehr nachvollziehbar. Und wenn dann jemand kommt und sagt „Du bist da aber selber schuld“ oder wenn es in der Kultur so verankert ist, kann es zu einer Verfestigung des eigenen Schuldempfinden kommen. Wenn Menschen da sind, die sagen: „Wir unterstützen dich, denn das war natürlich überhaupt gar nicht deine Schuld“, dann kann sich das positiv auf das eigene Empfinden und die Einschätzung des Ereignisses auswirken. Frauen sind natürlich auch gesellschaftliche Wesen. Das heißt, wenn ich denke: „So etwas kann mir nicht passieren und Frauen denen sowas passiert, die sind selber Schuld oder haben sich falsch benommen“, dann fällt das am Ende auf die Person zurück. Auch deshalb haben viele Opfer von sexuellen Übergriffen Schuld- und Schamgefühle. Durch eine gute Aufklärung, Selbstreflexion und spezielle Übungen, die das Selbstwertgefühl stärken, können sich diese Gefühle jedoch ändern. LARA bietet diese traumasensible Beratung an.

Welche verschiedenen Wege gibt es, einer Klientin innerhalb dieser ersten zehn Sitzungen zu helfen? Hören Sie erst einmal einfach nur zu?

Die Frauen müssen nicht über die Inhalte der Tat sprechen oder uns erklären was genau ihnen passiert ist. Wir versuchen herauszufinden, was der Frau in ihrer speziellen Situation guttut. Wir glauben ihnen und sind zur Unterstützung da. Einer unserer Grundsätze ist:  Ein Opfer ist an einem Übergriff nie schuld. Wir positionieren uns sehr deutlich, wir sind parteiisch und wenn eine Frau zu uns kommt und davon ausgeht, sie wäre selber schuld, dann erklären wir beispielsweise, wie die Rechtslage ist, und sie kann dann selbst reflektieren. Wir lassen sie mit ihren Gefühlen nicht alleine. Es gibt viele Möglichkeiten zum Beispiel Immaginationsübungen, um mit dem traumatischen Erleben, dass sich immer wieder in das Bewusstsein der Opfer drängt, umzugehen.

Wie steht es mit Hashtags wie #MeToo oder #aufschrei? Haben dann plötzlich mehr Frauen den Mut vorbeizukommen?

Ich glaube, dass sich gesellschaftlich wirklich was tut, deswegen begrüßen wir solche Aktionen. Aber so direkt beziehen sich unsere Klientinnen jedenfalls nicht darauf. Zu uns kommen vorwiegend Frauen, die wirklich nicht mehr weiterwissen und Unterstützung brauchen. Wir werden allerdings verstärkt von Journalistinnen angefragt. Das mediale Interesse ist gestiegen.

Denken Sie, dass solche Debatten dazu beitragen können, Alltagssexismus entgegenzuwirken?

Ja, denn das Thema ist auf jeden Fall mehr im Gespräch als noch vor einigen Jahren. Auch Themen, für die wir vorher nie ein Forum gefunden haben, werden jetzt in der Öffentlichkeit angesprochen. Im Fall Weinstein zum Beispiel, mussten sich erst berühmte Schauspielerinnen outen, damit das Thema in der Öffentlichkeit Beachtung findet.

Durch #MeToo kam die Debatte zwar wieder hoch, aber man hat das Gefühl, dass solche Themen immer wieder ziemlich schnell aus dem Fokus der Menschen verschwinden. Wissen Sie, woran das liegen könnte?

Ich finde, dass das Thema sexuelle Gewalt schon seit ein paar Jahren präsent ist. Es hat sich auch auf der gesellschaftlichen Ebene sehr viel getan. So gibt es zum Beispiel in den meisten Städten, unter anderem jetzt auch hier, eine vertrauliche Spurensicherung. Die Gesetzgebung und die institutionelle Hilfslandschaft wurden verbessert. Seit November 2017 gibt es in Deutschland ein neues Sexualstrafrecht, dass u.a. besagt, dass ein „Nein“ ausreicht, um einen sexuellen Übergriff strafrechtlich zu verfolgen. Eine vertrauliche Spurensicherung ist inzwischen in den meisten Bundesländern eingeführt worden, das bedeutet, dass ein Opfer einer Sexualstraftat Spuren anonymisiert sichern lassen kann um sich eventuell später für eine Anzeige entscheiden kann.  Die Situation hat sich erheblich verbessert, wenn Frauen Unterstützung brauchen. Viele Projekte in den Bundesländern, regionale und überregionale Hilfetelefone etc. wurden eingerichtet und auch finanziell besser ausgestattet. Sexuelle Gewalt ist mehr im Gespräch und nicht mehr so tabuisiert. Es ist auch so, dass Frauen, die in Führungspositionen sind, sich nicht mehr komplett abgrenzen. So wie eine schwedische Ministerin, also eine sehr hochrangige Person, die auch direkt „Me Too“ gesagt hat (Anm. d. Red.: gemeint ist die schwedische Außenministerin Margot Wallström, die im Oktober 2017 von sexueller Belästigung in der Politik berichtete). Das wäre früher gar nicht denkbar gewesen. Da gab es die Opfer auf der einen Seite und dann die anderen Frauen, besonders die in hohen Positionen, die das Thema Gewalt nicht betrifft. Gründe dafür sind natürlich auch vielfältige Mythen, wie zum Beispiel, dass Frauen, die einen Übergriff erlebt haben, nie wieder ein normales Sexualleben führen könnten. Das ist natürlich Quatsch. Vielleicht sagt Angela Merkel ja auch noch irgendwann mal „Me Too“. Das wäre doch mal ein Fortschritt.

 

Das Gespräch führte Sophie Neumann.
Die Fortsetzung findet ihr am 9.3. im nächsten Feminist Friday bei Teil 2 des Interviews.

 

Wer eine Beratung oder Unterstützung in Betracht zieht, der kann sich unter folgenden Kontaktdaten an die LARA – Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Frauen* wenden:

Fuggerstraße 19
10777 Berlin – Schöneberg
3. OG

Beratung und telefonische Hotline, Terminvergabe
Montag – Freitag von 9 – 18 Uhr

Telefon: 030 216 88 88
Fax: 030 216 80 61
E-Mail: beratung@lara-berlin.de

Zu beachten ist, dass Männer während der Öffnungszeiten keinen Zutritt zu den Räumen von LARA haben.

 

Illustration: Laura Haselmann