Elyas Wut richtet sich gegen alles und jeden.

Foto: Esra Rotthoff, © Ute Langkafel MAIFOTO

Die Eltern sind vor vielen Jahren nach Deutschland eingewandert, die Kinder hier geboren und aufgewachsen. Eine Generation, die nicht weiß, wo sie hingehört und auf ihrer Suche danach keine Ruhe findet. Das Theaterstück „Die Ungehaltenen“ nach dem gleichnamigen Roman bringt die Wut und Ängste dieser Menschen auf die Bühne.

Elyas zerzaust seine dichten Haare, nimmt die dunkle Sonnenbrille ab, steht erst locker lässig und dann plötzlich angespannt in seiner braunen Lederjacke da. Er greift zum Mikrofon und singt mit bebender Stimme alles aus sich heraus. Warum genau der junge Mann hier vor uns so sehr leidet, lässt sich vorerst nur erahnen. Enttäuschung oder Kummer, würde man vermuten, doch weil er selbst nicht zu wissen scheint, woher diese Gefühle kommen, ist es vor allem Wut, der er Ausdruck verleiht. Diese Wut, die Elyas in sich trägt, ist blind und kann sich gegen alles und jeden richten. Gegen seine eigene Familie, seine eigene Stadt, seinen Kiez. Sie legt sich wie ein unsichtbares Tuch über seine Umgebung, ist nicht zu sehen, nicht hinreichend zu erklären, sondern einfach da und nicht zu ignorieren. Alles, was ihn so wütend macht, es klebt an ihm, wird er später sagen, wie Hundescheiße. Er schreit nun fast und irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass Elyas besonders auf eine bestimmte Person sehr wütend ist. Sich selbst.

Die Ungehaltenen – das sind die, die geblieben sind, obwohl sie niemand wollte, das sind Reisende ohne Ziel und Suchende, die niemals ankommen.

Nach dem Debütroman von Deniz Utlu hat Regisseur Hakan Sava? Mican gemeinsam mit Necati Öziri den Versuch unternommen das Gefühl von Ungehaltenheit auf die Bühne des Maxim Gorki Theaters zu bringen. Mit der Hauptfigur, Elyas, die im Roman als Ich-Erzähler und auf der Bühne in einer starken Performance von Mehmet Ate?çi verkörpert wird, gelingt die bemerkenswerte Beschreibung einer postmigrantischen Identitätskrise.

In den bequemen Sitzkissen des kleinen Studio ? ist der Zuschauer den Schauspielern ungewöhnlich nahe. Er bekommt mal sarkastisch, mal verzweifelt, aber immer authentisch, ein viel zu wenig beachtetes Dilemma präsentiert. Das Dilemma eines Migranten, der keiner mehr ist und sich doch so fühlt.

Die Ungehaltenen beschreibt den Zustand einer zweiten Generation türkischer Einwanderer in Berlin, die nicht so genau weiß, wohin sie eigentlich gehört. Sie balanciert an einem emotionalen Abgrund. Junge Menschen, die haltlos und ungehalten zugleich zwischen zwei verschiedenen Kulturen in einem Spalt feststeckend und die Kraft finden müssen, sich selbst heraus zu ziehen. Weil ihnen sonst niemand helfen kann.

Als Sohn eines türkischen Gastarbeiters, lebt Elyas in Kreuzberg, er studiert Jura, er hat es weit gebracht. Eine lobenswerte Entwicklung vom Kanakenkind zum Akademiker, zum „Elitekanaken“, wie er selbst sagt. Alles gut also, könnte der Unbeteiligte meinen. Aber der kennt die Ungehaltenheit nicht, die Elyas trotzdem, oder gerade wegen seines Aufstiegs von Innen auffrisst.

Elyas verbringt die Nachmittage bei seinem Kumpel Hekim, drückt die Anrufe seiner Mutter weg und will sich gar nicht erst vorstellen, wie schlecht es seinem kranken Vater gerade geht.
Er wütet wild gegen seine Stadt Berlin und gegen sein Viertel Kreuzberg: „Ich stehe am Fenster, gucke auf die Straße und fühle mich wie ein Fisch in einem Aquarium. Diese ganzen Touristen und Zugezogenen mit Skinny Jeans, Jacketts, Seitenscheiteln und Vollbärten.“ Es kommt was kommen muss: „diese Jutebeutel!“ Elyas redet sich in Rage und verflucht selbst die von anderen so hoch geschätzte „Maybachufer-Gemüse-Romantik“.

Sein Vater liegt auf dem Sterbebett und Elyas kann nichts machen. Dann stirbt er und Elyas kann immer noch nichts machen. Er will nicht einmal auf die Beerdigung in die Türkei. Er grübelt lieber. Hat sein Vater was vergessen? War das so geplant? Soll das alles für ihn sein? Er will sich häuten, wie ein Tier, sein Wesen ändern – aber das geht nicht.
„Warum müssen Migrantengeschichten immer diese Tragik haben?“ fragt Elyas, der sich zum Unwohlsein verurteilt sieht. Einfach leben, verdrängen und Spaß haben, wie seine Freunde? Unmöglich. Er ist nie angekommen, wird nie ankommen. Und, wo denn überhaupt? Er weiß es nicht.

Das Plakat zum Theaterstück zeigt Elyas mit einer Zigarette im Mundwinkel, einem Çay
in der einen Hand und einer Taube in der anderen. Hekim, der Freund, greift das Motiv auf und erklärt es, Tauben seien unbeliebt, alle wollten sie loswerden. Dennoch fliegen einige durch den Berliner Himmel. Die Taube aber, die Elyas in seiner Hand hält, wirkt krank, wenn nicht tot.

Getragen von ergreifender Livemusik steht Elyas auf der Bühne und hadert mit so sich selbst, bis er ein junges Mädchen kennen lernt. Eine Ärztin und ihm nicht unähnlich. Elyas sucht bei Aylin (Elmira Bahrami) Halt. Sie verschwindet, doch er trifft sie in der Türkei wieder und überredet sie zu einer Reise bis ans Schwarze Meer, dorthin wo sein Vater begraben liegt.

Deniz Utlus Buch ist eine Mischung aus Berlin-Roman und Roadmovie. Im Theater wird das deutlich, wenn auf der Panoramaleinwand im Hintergrund Landschaften, Menschen, Farbübergänge vorbeiflackern, schnell und kurzlebig. Nichts von dem bleibt, doch die Ungehaltenen, die nun wenigstens einander haben, suchen wieder. Als gäbe es in der Suche eine Möglichkeit Wut, Trauer, Zynismus und Enttäuschung zu überwinden oder zu kaschieren, sei es mit Selbstironie.

Doch auch diese Suche hat ein Ende. Elyas sitzt schließlich am Grab des Vaters und muss feststellen, dass er zwar weit gefahren ist, Antworten findet er jedoch keine. Der Zuschauer wird es auch nicht, bekommt aber das interessante Bild eines „Ungehaltenen“ gezeichnet, das zahlreiche Denkanstöße liefert, die es auszudenken lohnt.

Besetzungsliste:
Mehmet Ate?çi / Elmira Bahrami / Volkan Türeli / Mehmet Y?lmaz
Regie Hakan Sava? Mican, Bühne + Kostüme Sylvia Rieger, Musik Volkan T., Video Benjamin Krieg, Dramaturgie Necati Öziri
(Nächste Vorstellungen: Montag 29.06./ Dienstag 30.06. jeweils 20.30 Uhr)