Für viele Menschen bedeutet die Weihnachtszeit familiäre Zusammentreffen, die nicht selten ohne Streitigkeiten zu bewältigen sind. Über Versuche der Annäherung zur stressigsten Zeit des Jahres.

Ich klingle an der Tür, die ich früher so oft aufgeschlossen habe. Bei Mama ist alles wie immer. Es riecht nach Zuhause. Wohl eher nach dem Zigarettenrauch, der sich über die Jahre in den Wänden festgesetzt hat. Mein Zimmer ist das Einzige, was sich verändert hat. Ich habe viele meiner Möbel beim Auszug mitgenommen. Etwas zusammengewürfelt besteht mein Zimmer nun aus meinem alten Schrank, den ich bewusst dagelassen habe, einem alten Klavier, das zu verstimmt ist, um gespielt zu werden, einer kleinen Computerecke, einem Sessel – etwas mitgenommen über die Jahre –, einem Sitzmöbel aus Kokosnussholz, das wir mal einem Nachbarn abgekauft haben, und einer Matratze auf dem Boden. Dort werde ich also die nächsten Tage schlafen. Bis nach Neujahr… Habe ich mir das wirklich gut überlegt? Ich möchte nicht, dass Mama an Silvester allein ist, und wir haben das ja schon immer so gemacht. Wie boomeresque von mir.

Gerade einmal zwei Tage bin ich jetzt hier. Kommt mir länger vor. Na ja, so ist das eben, wenn man sich zwei Tage lang streitet. Okay, ich gebe es zu. Wir haben nicht nur gestritten, es gab schöne Momente. Aber doch eben auch sehr viele stressige. Dabei ist doch Weihnachten – das Fest der Liebe, das Fest, an dem Familien zu zwanzigst an einer großen Tafel sitzen, Konversationen und Essensduft die geschmückten Räume erfüllen und die Kinder um den Weihnachtsbaum tanzen. Ach, das ist nur in den Weihnachtsgeschichten von Astrid Lindgren so? Aber einen Weihnachtsbaum gibt es bei uns auch. Sogar einen ganz großen. Und zwar jedes Jahr. Und wenn es das letzte ist, was meine Mutter tut. „Ein kleiner Baum kommt mir nicht ins Haus“, höre ich ihre Stimme. Zugegebenermaßen erfreue auch ich mich am Baum. So bin ich eben aufgewachsen. Weihnachten ohne Weihnachtsbaum ist kein Weihnachten. Doch für mich wäre auch ein kleiner Baum in Ordnung. Oder eben gar keiner, wenn das Geld oder die Kraft nicht reicht.

Ich bin für das Schmücken des Baumes verantwortlich – wie immer. Das macht mir Spaß. Wir haben viel Weihnachtsbaumschmuck, viele Anhänger, die einen großen persönlichen Wert für mich haben, die mich quasi haben aufwachsen sehen: einen Bären auf einem Schlitten mit einem kleinen Geschenk, eigentlich nicht besonders hübsch, doch für mich darf er auf keinen Fall fehlen, zwei Pandas, die jetzt nicht unbedingt Weihnachten schreien, und jede Menge Holzanhänger – ein Schaukelpferd, ein paar Glocken, ein Engel.

Beim Schmücken entdecke ich ein Fotoalbum, das ich Mama vor Jahren mal zusammengestellt habe. Es ist eingestaubt. Hat sie es sich wohl jemals wieder angeschaut? Ich wische es mit dem Ärmel ab und öffne es. Auf die ersten Seiten habe ich Fotos von ihr als Kind geklebt – mit ihrer Mutter und ihrem Bruder, im Gitterbettchen und so weiter. Es ist irgendwie komisch, sich vorzustellen, dass diese Frau, die ich als meine Mutter kenne, mit der ich so viel erlebt habe – Positives wie Negatives – einmal ein kleines Mädchen war, das sein ganzes Leben noch vor sich hatte. Ich blättere weiter. Es folgen Fotos von ihr in ihren Zwanzigern auf Reisen. Dann bin auf einmal ich zu sehen. Ich als Baby, ich als kleines Kind. Ich werde überrollt von einer Welle an Emotionen und ich spüre, wie sich Tränen in meinen Augen sammeln. Mama sieht so glücklich aus auf den Fotos, auf denen sie mich auf dem Arm hält, auf denen sie mit mir spielt. Was hat sich verändert? Ist sie jetzt nicht mehr glücklich? Warum ist sie jetzt nicht mehr glücklich? Jetzt ist sie nur noch gestresst. Gestresst und müde.

In dem Album sind Fotos von mir, wie ich in einem – für ein Kleinkind ziemlich großen – Haus aus Pappe spiele, das ich mal zum Geburtstag bekommen habe. Auf anderen Fotos bin ich mit Mama und Papa am Strand in Italien – da waren meine Eltern noch zusammen. Und auf wieder anderen Fotos bin ich in einem schicken weinroten Kleid am Tag meiner Einschulung zu sehen, mit selbstgemachter Schultüte versteht sich. Die Schultüte gibt es noch, hier in der Wohnung von Mama, die nach Zigaretten riecht, in der gestritten wird, in der ich schon zusammengekauert in der hintersten Ecke meines Zimmers saß und überlegt habe, wie ich jetzt schnellstmöglich hier rauskomme – und die dennoch für mich Zuhause bedeutet wie kein anderer Ort. Beim Anblick der Fotos durchströmt eine Wärme meinen Körper, gepaart mit einem Anflug von Nostalgie. Ich weiß, dass Mama nur das Beste für mich wollte, dass sie stets versucht hat, mir die beste Mutter zu sein, die es gibt. Das habe ich oft gespürt. Angefangen bei den selbstgenähten Kleidern für meine Puppen und Stofftiere, die sie natürlich all die Jahre sorgsam aufgehoben und mir heute nach einem unserer Streits wie zur Versöhnung dargeboten hat. Vielleicht ist das ihre Art der Annäherung? Oder die etlichen Male, die sie mich von der Schule abholen musste, weil ich Migräne hatte. Und die unzähligen Reisen.

Aber vielleicht ist auch genau das das Problem. Dass sie für sich zu hohe Standards gesetzt hat. Denn es gibt nicht die „perfekte“ Mutter. Und nach Perfektion in einer Disziplin zu streben, in der Perfektion unmöglich ist, kann einen ja nur in den Wahnsinn treiben. Oder in den Alkohol. Ich weiß nicht, ob das der Grund für den doch nicht ganz so gesund wirkenden Alkoholkonsum meiner Mutter ist. Ab wann ist man eigentlich Alkoholiker*in? Mama hat jedenfalls für meine Begriffe etwas zu oft „nur ein kleines Glas Rotwein“ vor sich stehen. So auch an diesem Abend des Baumschmückens. Am liebsten hätte ich den Wein in den Hinterhof ausgeleert. Habe ich natürlich nicht gemacht. Stattdessen habe ich mich zu Mama an den Tisch gesetzt.

Ich frage sie, wie sie und ihre Eltern früher Weihnachten gefeiert haben. Erst scheint sie sich nicht erinnern zu können, weicht aus, sagt, das sei schon so lange her. Doch dann kommen die Erinnerungen plötzlich doch. Sie erzählt, dass sie den Großteil ihrer Kindheit und Jugend mit ihren Eltern in einer sehr kleinen Wohnung verbracht habe. Ihr Vater habe auch immer einen Weihnachtsbaum organisiert, egal, wie wenig Geld sie hatten. Doch das sei früher anders gewesen. Günstiger, und teilweise habe er ihn selbst geschlagen. Dann, an Heiligabend, hätte sie nicht ins Zimmer gedurft. „Das ist bei uns auch so gewesen!“, falle ich ihr aufgeregt ins Wort. Ich erzähle, wie ich mich daran erinnere, dass bei uns immer das „Christkind“ gekommen ist und ich dann ebenfalls nicht ins Wohnzimmer durfte. Daran kann sie sich nicht erinnern. Allerdings nicht so, wie sonst, wenn ich sie mit etwas konfrontiere, bei dem sie sich in der Vergangenheit nicht richtig verhalten hat und sie dann so tut, als wäre es nie geschehen. Nein, diesmal ist sie einfach nur belustigt darüber, dass sie so getan hat, als würde es das Christkind wirklich geben.

Plötzlich kippt die Stimmung jedoch. Sie erinnert sich an ihren Vater, der 1969 kurz nach Weihnachten gestorben ist. Ich merke, sie möchte darüber reden. Doch ich kann damit nicht umgehen. Ich kann nicht damit umgehen, dass Mama mich auf eine emotionale Weise braucht. Vielleicht, weil ich sie so oft emotional gebraucht hätte und sie nicht für mich da war? Ich blocke ab. Und bereue es sofort. Denn da ist sie wieder: die Wand, die ich doch eigentlich zu durchbrechen versuche. Die Wand, die ich doch gar nicht dahaben will und die trotzdem immer wieder kommt, sobald ich ein kleines Stück von ihr kaputt mache. Diese verdammte Wand.


Illustration: Carolin Dudakow