Seit der Eskalation des Nahost-Konflikts scheint eine friedliche Verständigung der beiden Völker schwieriger als je zuvor. Doch die Barenboim-Said Akademie zeigt, wie Annäherung trotz Konflikten möglich ist. Ein Orchester, das über Grenzen hinweg spielt und mehr als nur Musik vermittelt.
Die ersten harmonischen Klänge erfüllen die Luft, als die jungen Musiker*innen des Orchesters der Barenboim-Said Akademie ihre Instrumente zum Einstimmen ansetzen. Es ist der Abend des 19. Novembers 2024 und etliche Menschen haben sich im voll besetzten Pierre Boulez Saal direkt an der Französischen Straße eingefunden, um dem Akademiekonzert unter der musikalischen Leitung von Daniel Barenboim zu lauschen. Eine erwartungsvolle Stille tritt ein, bevor der Meister höchstpersönlich den Saal betritt und unter stürmischem Beifall mit kleinen, vorsichtigen Schritten zu seinem Dirigentenstuhl geht. Mit dem dünnen weißen Haar wirkt seine kleine Gestalt fast ein wenig zerbrechlich, doch als er vor sein Orchester tritt und den Dirigentenstab hebt, ist sein Blick klar und seine Bewegungen von so großer Präzision, als hielte er hauchdünne Fäden in den Händen. Die Anerkennung, die ihm hier entgegengebracht wird, gilt nicht nur seinem künstlerischen Schaffen als Pianist und Dirigent, sondern vor allen Dingen seinem jahrelangen Einsatz für eine friedliche Lösung des Nahost-Konflikts.
Bereits 1999 gründete er gemeinsam mir dem palästinensisch-amerikanischen Literatur- und Kulturwissenschaftler Edward Said das „West-Eastern Divan Orchestra“, das sich zu gleichen Teilen aus israelischen und arabischen Musiker*innen zusammensetzt und so die Möglichkeit einer friedlichen Annäherung der politisch verfeindeten Völker aufzeigt. Diesen Grundgedanken führte er in der Eröffnung der Barenboim-Said Akademie 2016 fort, wo seither junge Musiker*innen aus dem Nahen Osten, aber auch aus vielen anderen Ländern Seite an Seite unterrichtet werden. Zentral für das Konzept der Hochschule ist die untrennbare Verbindung der musikalischen Ausbildung mit einer humanistischen Bildung. Gefördert werden interkulturelle Kompetenzen sowie eine Begegnung auf Augenhöhe, aber auch Kurse in Philosophie, Literatur und Geschichte sind neben den musikalischen und musiktheoretischen Fächern nicht wegzudenken. Im Foyer der Akademie hängt ein Zitat von Barenboim, welches besagt: „Musik steht im Zentrum dessen, was wir als menschlich bezeichnen“. Durch das gemeinsame Musizieren sollen die Student*innen lernen, einander zuzuhören und so ein besseres Gespür für sich selbst, die Anderen und eine gemeinsame Dynamik bekommen. Dabei geht es nicht darum, Konflikte zu ignorieren, denn auch aktive Diskussionen und das Äußern unterschiedlicher Meinungen in einem respektvollen Rahmen werden von der Akademie explizit gefördert. Dabei hat es wohl auch eine besondere Symbolkraft, dass Barenboim als Präsident der Akademie sowohl einen israelischen als auch einen palästinensischen Pass besitzt. Und das als erste Person weltweit.
Inzwischen ist das Konzert in vollem Gange und es erklingt Ludwig van Beethovens zweite Symphonie. Mal lauter, mal leiser wogen die Töne durch den Saal, umkreisen einander und verbinden sich zu einem gemeinsamen Klangkörper. Wie die fließenden Bewegungen eines Tanzes oder eines synchronen Schwarms, perfekt aufeinander abgestimmt.
Je zwei Musiker*innen teilen sich die Notenblätter und sind einander zugewandt. Sieht man ihnen so beim Spielen zu, fällt es schwer, sich bewusst zu machen, dass zwischen ihren Völkern viele tausend Kilometer entfernt so viel Feindseligkeit herrscht.
In der Pause berichtet eine Dame aus dem Publikum, wie sie bereits das Akademiekonzert ein Jahr zuvor besucht hatte, kurz nach der Eskalation des Konflikts durch den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023. Trotz der erschütternden Geschehnisse sei das ganze Orchester geschlossen aufgetreten, kein einziger habe gefehlt.
In der zweiten Hälfte des Konzerts wird wieder Beethoven gespielt – diesmal die sechste Symphonie. Der düstere vierte Satz „Gewitter, Sturm. Allegro” scheint unüberhörbar symbolisch, doch den Abschluss bilden die wohltuenden Klänge des fünften Satzes „Hirtengesang. Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm. Allegretto“ und bleiben wie unausgesprochene Worte der Hoffnung in der Luft hängen.
Als der letzte Ton verklungen ist, bricht tosender Applaus los. Strahlende Gesichter unter den Musiker*innen, sie tauschen leise Worte aus und umarmen sich. Barenboim erhebt sich und gibt der ersten Violine einen Handkuss. Bei seinem erneuten Erscheinen trommeln seine Student*innen mit den Füßen auf den Boden, sodass der ganze Saal vibriert. Von den Rängen ertönen Bravo-Rufe.
Arm in Arm schreiten die Student*innen hinaus und es scheint fast, als wäre die Notwendigkeit einer Annäherung hier längst überflüssig. Doch das ist keinesfalls eine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis einer täglichen aktiven Entscheidung für das Miteinander und einen fortlaufenden Diskurs. Auf die Frage, wie sich die Stimmung in der Akademie seit dem letzten Oktober verändert habe, antwortet eine der Violinist*innen sehr eindeutig: Natürlich sei die Situation sehr herausfordernd, vor allem für Student*innen, deren Familien direkt betroffen sind. Immer wieder prallen auch starke Meinungen aufeinander. Dennoch sei der Umgang miteinander sehr verständnisvoll. Durch viele offene Gespräche untereinander und mit dem Maestro, wie sie Barenboim nennt, sowie aktives Aufeinanderzugehen, ist die Gruppe sogar noch enger zusammengewachsen als zuvor.
Vielleicht kann der friedliche Umgang von Israelis und Palästinenser*innen in einem kleinen Orchester nicht gleich den tief verwurzelten politischen Konflikt in Nahost lösen, die Botschaft, die die Barenboim-Said Akademie damit sendet, ist jedoch klar: Eine Völkerverständigung ist nur ohne Waffengewalt zu erreichen. Oder mit den Worten von Edward Said: „Humanismus ist die einzige, genauer, die letzte Verteidigungslinie, die wir haben, um uns gegen die unmenschlichen Exzesse und Ungerechtigkeiten zu wehren, die unsere Menschheitsgeschichte verunstalten.“
Illustration: Pauline Berghaus