110 Jahre nach dem Völkermord an den Armenier*innen und anderen christlichen Minderheiten – warum Deutschland diesen erst spät anerkannte, die Türkei die Anerkennung weiterhin ablehnt und warum diese aber für die Erinnerungskultur so wichtig ist.

Donnerstag, 2. Juni 2016: Mit lediglich einer Enthaltung verabschiedet der Deutsche Bundestag eine Resolution zur Anerkennung des Völkermords an den Armenier*innen und anderen christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich. Eingebracht wird sie überparteilich – von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Die Resolution benennt die systematische Vertreibung und Ermordung von rund 1,5 Millionen Armenier*innen zwischen 1915 und 1916 erstmals eindeutig als das, was es war: ein Genozid.

Die Abstimmung erfolgt in Abwesenheit der damaligen Kanzlerin Angela Merkel, des Vizekanzlers Sigmar Gabriel und des Außenministers Frank-Walter Steinmeier – vielfach kritisiert und als diplomatisches Manöver zum Schutz der deutsch-türkischen Beziehung eingeordnet. Diese Abwesenheit verweist auf ein Dilemma, das den Umgang mit dem Genozid an den Armenier*innen bis heute prägt: das Spannungsverhältnis zwischen diplomatischer Rücksichtnahme und historischer Wahrheit, zwischen geopolitischer Bündnistreue und erinnerungspolitischer Verantwortung.

Der Genozid

Auf den 24. April 1915 wird der Beginn des Völkermordes datiert – an jenem Tag wurden hunderte armenische Intellektuelle in Konstantinopel (heute: Istanbul) verhaftet und verschleppt. Was dort begann, wurde binnen weniger Monate zu einer flächendeckenden Vernichtungsmission. Die jungtürkische Regierung erklärte die Armenier*innen zu „inneren Feinden“, zu „Kollaborateur*innen Russlands“ – ein klassisches Muster genozidaler Rhetorik. Diese Regierung, die sich zu dem Zeitpunkt zu formieren suchte, sah in der Vielfalt des osmanischen Vielvölkerreichs ein Hindernis bei der Suche nach einer ethnisch-homogenen Nationalidentität. Die Sorge um diese fragile türkische Nationalidentität wirkt bis heute nach und ist sicherlich einer der Hauptgründe für die Leugnung dieses Verbrechens.

Der Begriff „Aghet“ (armenisch für „Katastrophe“), unter dem der Genozid auch bekannt wurde, erlangte insbesondere durch die gleichnamige Dokumentation aus dem Jahr 2010 Popularität. Die Armenian Society, eine armenische Hochschulgruppe, die an der  Humboldt-Universität gegründet wurde, kritisiert jedoch die Verwendung des Begriffs. Aus wissenschaftlicher Sicht sei dieser problematisch, da „Katastrophe“ auch Naturereignisse wie Erdbeben umfasse – so verschleiere der Begriff die gezielte Systematik des Verbrechens. Gerade angesichts der bis heute andauernden Leugnung sei es zentral, präzise und rechtlich eindeutige Begriffe wie „Genozid“ zu verwenden. Die Hochschulgruppe verweist dabei auch auf den Völkerrechtler Raphael Lemkin, der den Begriff „Genozid“ geprägt hat – inspiriert durch den Völkermord an den Armenier*innen. Begriffe wie „Aghet“ oder auch „Aret“, die im deutschsprachigen Raum gelegentlich genutzt werden, trügen zur Relativierung bei und würden gezielt von Leugner*innen instrumentalisiert, um Verantwortung zu vermeiden.

Warum wurde diese Resolution im Deutschen Bundestag beschlossen?

Nur die Wenigsten wissen, dass das Deutsche Kaiserreich Mittäter dieses Menschheitsverbrechens ist. Es war nicht nur Mitwisser, sondern auch engster militärischer Verbündeter der jungtürkischen Regierung im Ersten Weltkrieg. Nachweislich waren sie durch Briefe über die laufenden Menschheitsverbrechen informiert, Presseberichte wurden zensiert. Zahlreiche deutsche Offiziere wie Wolffskeel von Reichenberg waren beteiligt an der Organisation oder Durchführung der Massaker.

Berlin: Ein Fluchtpunkt der Täter

Nach Kriegsende flohen zahlreiche Hauptverantwortliche des Genozids nach Deutschland. Talaat Pascha, Enver Pascha, Cemal Pascha, Bahaettin Şakir – sie alle fanden Zuflucht in Berlin. Talaat Pascha residierte bis 1921 unter Schutz der Weimarer Republik in der Hardenbergstraße in Charlottenburg, ehe er dort von dem armenischen Überlebenden Soghomon Tehlirian am 15. März 1921 auf offener Straße erschossen wurde – als Teil der „Operation Nemesis“, einer Reihe gezielter Attentate, die sich hauptsächlich gegen osmanische Verantwortliche richtete, durchgeführt von der Armenischen Revolutionären Föderation (ARF). Noch heute liegen zwei der Täter – darunter Talaat Pascha – auf dem Friedhof der Şehitlik Moschee in Berlin-Neukölln begraben, ohne jegliche historische Reflexion oder öffentliche Auseinandersetzung.

Und heute?

Die Resolution war ein später Akt symbolpolitischer Anerkennung, blieb dies jedoch auch überwiegend. Konsequenzen, wie der verpflichtende Einzug der Aufklärung zum armenischen Völkermord in die bundesdeutschen Lehrpläne bleibt bis heute aus. Solange das Thema im öffentlichen Bildungsdiskurs fehlt, bleibt es für viele Menschen in Deutschland unsichtbar, wenn sie keinen persönlichen Bezug dazu haben.

Der türkische Staat erkennt den Völkermord bis heute nicht an – im Gegenteil: Die Leugnung ist gesetzlich verankert. Besonders aktuell und bemerkenswert ist die Schließung des Açık Radyo am 16. Oktober 2024 – eines der wenigen, im Zuge des Demokratieabbaus und der Autokratisierung der Türkei gebliebenen unabhängigen, gemeinnützigen, freiheitlich-demokratischen Rundfunke der Türkei. Der Vorwurf: In einer Sendung wurde der Völkermord von einem Gast beim Namen genannt.

Erinnerungskultur  – Anerkennung und Aufarbeitung

Die Anerkennung eines Genozids markiert den Beginn der Aufarbeitung. Sie ist eine notwendige Antwort auf ein Verbrechen, das nicht nur Körper, sondern auch Erinnerung, Sprache, Kultur und Würde vernichtete. Ein Genozid endet nicht mit dem Tod seiner Opfer – er wirkt fort in der Leugnung, im Schweigen, in der Unsichtbarkeit. Genau deshalb ist die Anerkennung solch grausamer Taten von größter Bedeutung. Anerkennung bedeutet: Benennung der Geschehnisse ohne Relativierung. Darüber hinaus schafft Anerkennung rechtliche, politische und gesellschaftliche Grundlagen für eine Aufarbeitung. Nur was als Unrecht benannt wird, kann auch als solches aufgearbeitet und dokumentiert werden. Nur so kann versucht werden, den Opfern Entschädigung zu geben. Nur so können Opfer beginnen, zu heilen. Ohne Anerkennung gibt es keine Verantwortung – und ohne Verantwortung keinen Wandel.

Armenische Erinnerungskultur an der Humboldt-Universität: Eine Stimme der Gegenwart

110 Jahre nach dem Genozid bleibt die Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armenier*innen weiterhin hochaktuell. Gerade an Orten wie der Humboldt-Universität zeigt sich, wie eng Erinnerung, Verantwortung und Wissenschaft miteinander verflochten sind.

Die armenische Hochschulgruppe Armenian Society setzt sich seit ihrer Gründung 2022 für armenische Interessen, Erinnerung und Aufklärung ein. Sie ist die erste armenische Hochschulgruppe an der Humboldt-Universität und engagiert sich lokal wie auch international. In Zusammenarbeit mit der Armenian General Benevolent Union (AGBU) Germany, dem deutschen Zweig der weltweit größten armenischen Wohltätigkeitsorganisation, ermöglichen sie ihren Mitgliedern die Teilnahme an Praktika, humanitären Projekten und Weiterbildungsprogrammen in Armenien, Europa und den USA. 

Die Armenian Society erinnert an historische Verbindungen, wie etwa den armenischen Komponisten Komitas Vardapet, der Ende des 19. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität studierte. Komitas war nicht nur ein international anerkannter Komponist und Musikwissenschaftler, sondern auch Überlebender des Genozids. 1915 wurde er in der ersten Welle der Verhaftungen in Istanbul inhaftiert – ein traumatisches Erlebnis, von dem er sich nie erholte. Er sprach nie wieder öffentlich und verbrachte den Rest seines Lebens in psychiatrischen Kliniken. In Erinnerung an sein musikalisches Erbe wurde ihm eine Gedenkplakette an der Musikfakultät gewidmet. Auch der armenische Kreuzstein (Khachkar) an der St.-Hedwigs-Kathedrale – nahe der juristischen Fakultät – steht symbolisch für die armenische Erinnerungskultur in Berlin.

Doch Erinnerung allein reicht nicht. Die Armenian Society weist auch auf problematische Entwicklungen an der eigenen Universität hin: So existierte bis 2021 ein Lehrstuhl für die Geschichte Aserbaidschans, finanziert durch die autoritäre aserbaidschanische Regierung – ein enger Verbündeter der Türkei, der den Genozid bis heute leugnet und wiederholt Kriegsverbrechen gegen Armenien ausübt. Laut Armenian Society berichteten Studierende, dass in Seminaren der Genozid relativiert und anti-armenische Narrative unterstützt wurden. Der Lehrstuhl wurde zwar aufgelöst, jedoch sei dies ohne öffentliche Aufarbeitung oder Positionierung seitens der Universitätsleitung geschehen. Für viele armenische Studierende war dies ein Moment tiefer Enttäuschung.

In ihrer Stellungnahme erklärt Edgar Ambarzumjan, Präsident und Mitbegründer der Armenian Society:

„110 Jahre nach dem Völkermord fordern wir, dass sich die Humboldt-Universität nicht nur durch Gedenktafeln und Orte der Erinnerung zu dieser Verantwortung bekennt. Es braucht auch die Aufarbeitung von Fehlern der Gegenwart, insbesondere dann, wenn Armenier*innen durch externe Einflussnahme erneut zum Schweigen gebracht werden sollen. Erinnerung ohne Konsequenz bleibt leer – und echte Wissenschaft darf nicht käuflich sein.“

Die Frage nach Verantwortung ist aktueller denn je. Es reicht nicht, zu erinnern – Verantwortung bedeutet, sich mit der Geschichte aktiv auseinanderzusetzen, Konsequenzen zu ziehen und Leugnung zu benennen. Und Universitäten müssen transparente Räume dafür schaffen – für Erinnerung, Aufarbeitung und Verantwortung.


Foto: Max Menzel