Act now – aber wie? Neue Fragen erfordern neue Antworten, doch die Erinnerung an bedeutende Stimmen der Umwelt- und Friedensbewegungen des 20. Jahrhunderts kann auch eine emotionale Funktion erfüllen. Die Figur Petra Kelly verkörperte im Extrem, was heute vielen fehlt.

Am 12. September lief in den Kinos eine Dokumentation über die Umwelt- und Friedensaktivistin Petra Kelly an, deren Beititel „Act Now“ zum Nachdenken anregt. Kelly wurde 1947 in Bayern geboren, erlebte aber im Zuge der Heirat der Mutter mit einem US-Offizier und des folgenden Umzugs der Familie in die USA bedeutende Teile ihrer Jugend in Georgia, Virginia und Washington. In der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und mit dem Konzept des „zivilen Ungehorsam“ sozialisiert, trug sie nach ihrer Rückkehr nach Europa ihre Ideen auch in die institutionelle Politik. 1971 begann Kelly ihre Karriere in der Verwaltung der Europäischen Gemeinschaften in Brüssel, ab 1980 brachte sie als Gründungsfigur der „Anti-Parteien-Partei“ DIE GRÜNEN mit einer aufsehenerregenden Schlagkraft die Themen Ökologie, Frieden und Feminismus in eine stark männerdominierte Parlamentskultur ein. Sie leistete dabei einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur langfristigen Veränderung dieser Kultur, ohne aber den Kontakt zu den sozialen Bewegungen, zur Politik „von unten“, zu verlieren. Im Film heißt es zurecht, Petra Kelly habe „die Grünen geschaffen“, aber „die Grünen haben nicht Kelly geschaffen“. Ihre Positionen waren häufig noch radikaler als die der Partei, und ihre Inszenierung zum Medienstar ließ sie häufig als die Einzelkämpferin erscheinen, die sie war. Worin also liegt die im Film proklamierte Vorbildfunktion dieser Figur, warum soll genau die Erinnerung an Kelly uns heute zum Handeln bewegen? Und wozu eigentlich konkret?

Im Jahr 1992 wurde Petra Kelly von ihrem jahrelangen Partner und politischen Gefährten Gert Bastian erschossen. Über die genauen Umstände und Motive des Mords wird bis heute spekuliert: War es ein Femizid, oder auch eine politisch motivierte Tat? Unhaltbar ist jedenfalls das Narrativ des Doppelsuizids, das die mediale Berichterstattung der neunziger Jahre und sogar Kellys Begräbnis prägte. Petra Kelly wäre heute 76 Jahre alt. Was sie inhaltlich über die aktuelle Gegenwart zu sagen hätte, lässt sich nur erahnen. Dass sie sich für mehr Klimaschutz auf die Straße geklebt hätte, gilt in Doris Metz‘ filmischer Biografie als sicher – doch hatte die „Letzte Generation“ zu dem Zeitpunkt, als die Dokumentation in die Kinos kam, schon längst das Ende der umstrittenen Aktionsform angekündigt. Noch schwerer lässt sich Kellys Engagement als Friedensaktivistin auf die heutige Lage beziehen. Die Berliner Demonstrationen vom 03. Oktober 2024 verdeutlichten die große Uneinigkeit darüber, was die Forderung nach „Frieden“ in Zeiten des Krieges in der Ukraine und dem Nahen Osten konkret bedeuten soll. Besonders der Aufruf zur Großdemonstration der Initiative „Nie wieder Krieg“, bei der Sahra Wagenknecht als Hauptrednerin auftrat, zog aufgrund der fehlenden Benennung Putins als Kriegstreibers viel Gegenprotest auf sich.

Obwohl es also unmöglich ist, Kellys Kämpfe auf heutige Fragen direkt zu übertragen, hat das zusammengestellte Videomaterial ihrer Reden und Interviews eine unbestreitbar mitreißende Wirkung. Viele der Themen, die Kelly damals bewegten, beschäftigen uns auch heute noch – sie lähmen uns. Wer den Gedanken an die Klimakatastrophe nicht konstant wegschiebt, gelangt häufig zu dem ernüchternden Gedanken, dass sie nicht mehr abzuwenden ist. Oder hat aufgegeben, für die aus Klimaperspektive notwendige globalwirtschaftliche Radikalveränderung einzustehen, weil solche Positionen an den tatsächlichen Verhältnissen abprallen wie kleine Fliegen. Es sind diese kollektiven Paralyseerscheinungen, auf die die Figur Petra Kelly tatsächlich eine Antwort liefert, denn ihr Charakter steht für die mögliche Wirkkraft des einzelnen Menschen im Kollektiv. Auf beinahe asketische Weise widmete sie ihr gesamtes Leben nur der Politik. Sie sah sich angetrieben von dem frühen Krebstod ihrer Schwester Grace und verband ihn mit der Problematik ziviler und militärischer Nutzung gesundheitsgefährdender Kernenergie. In einer Zeit der alternativlos scheinenden atomaren Aufrüstung zwischen den Blöcken des Kalten Krieges sprach sie sich für Abrüstung und Zusammenarbeit aus und fuhr dafür unter anderem nach Ost-Berlin, wo sie bei einer Protestaktion am Alexanderplatz zeitweilig verhaftet wurde. Ihr Ideal von Protestkultur ließ keinen Platz für Muße und Feierei, sie sah nur die Dringlichkeit des Jetzt, die Notwendigkeit eines sofortigen Handelns. Ihr Ansatz erschien manchen zu puritanisch oder madonnenhaft, wodurch Kelly auch aneckte. Laut Ralf Fücks ist es gerade die Rhetorik des „Sofortismus“, die sie schließlich von den Grünen trennte, nachdem sich die Partei ab 1983 dank ihres Einzugs in den Bundestag verstärkt zu Kompromissbereitschaft gedrängt sah.[1] Bis heute wird den Grünen immer wieder eine zu gefügige „Realpolitik“ und die Vernachlässigung von Klimaschutzzielen zugunsten des eigenen Machterhalts vorgeworfen.

In Zeiten der Resignation kann die lebhafte Erinnerung an unnachgiebige Stimmen wie die Petra Kellys bedeutend sein. Denn dass gegen das pessimistische Klima selbst aktivistische Ikonen nicht zwingend und für immer immun sind, zeigte zuletzt Joan Baez, die beim March on Washington 1963 We Shall Overcome gesungen und ihre Musik auch mit Protesten gegen den Vietnamkrieg verbunden hatte. „It’s either Fascism or global warming that we’re going to succumb to, and way too sooner than I’d like to think”, erklärte sie im April diesen Jahres in einem Interview mit Vanity Fair. Auch über ihr Leben erschien jüngst ein Dokumentarfilm: „Joan Baez – I am a noise“ offenbarte im Dezember 2023 die persönlichen Ängste und Traumata, die lange hinter dem Scheinwerferlicht der Folk-Legende verborgen lagen. Szenen aus Baez‘ heutigen Alltag zeigen, dass es nach all den turbulenten Jahren ruhiger zugeht. „I’m feeling as though we are hustling towards the great abyss and I’m making the best of the time we have“,[2] heißt es weiterhin in dem Interview. Ein allzu verständlicher Wunsch nach Rückzug, der ein Vertrauen in die mögliche Handlungsmacht jüngerer Generationen zumindest nicht vollends ausschließt. Denn wir haben noch ein paar mehr Jahre, und irgendwie muss es ja weitergehen. —

[1] Fücks, Ralf, Petra Kelly und die Grünen. Eine Wiederannäherung, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Petra Kelly – Eine Erinnerung, Berlin 2007, S. 7f.

[2] Ledonne, Rob: Joan Baez Used Her Voice for Political Activism. Now She’s Adding a Brand-New Chapter to Her Legacy, in: Vanity Fair, 25.04.2024; https://www.vanityfair.com/style/story/joan-baez-new-chapter [letzter Aufruf 28.10.2024].


Foto: Petra Kelly auf der Veranstaltung Künstler für den Frieden in Bochum am 11.9.1982 / aufgenommen von Rainer Mittelstädt, Deutsches Bundesarchiv, Bild 183-1982-0912-015 / CC-BY-SA 3.0