Les Misérables , die französische Auswahl für den Oscar in der Kategorie Bester Internationaler Film ist ein explosives Sozialdrama, dessen realistische Intensität man nicht so schnell vergessen kann.

Der Eröffnungsfilm der französischen Filmwoche hätte nicht besser ausgewählt werden können, ist er doch eine perfekte Mischung der historisch-intellektuellen Vergangenheit des Landes und dessen grauer Gegenwart. Obwohl, so viel Historie findet sich eigentlich nicht im Film, die einzige Anlehnung an Victor Hugos Les Misérables besteht darin, dass auch diese Geschichte im selben Vorort von Paris, Montfermeil spielt. Dieser gleicht heute in keiner Weise mehr dem Montfermeil des 18. Jahrhunderts, leben hier nun vor allem afrikanische und arabische Einwandererfamilien und deren Kinder. Es ist ein Stadtteil der von Kriminalität geprägt ist, Drogenhandel, Prostitution, Gewalt und auch Islamismus.

 

Im Film folgt der Zuschauer zwei verschiedenen Perspektiven. Auf der einen Seite sind die Jugendlichen in ihrem Alltag, der manchmal mehr oder weniger kriminell ist und auf der anderen eine Spezialeinheit der Polizei, die BAC-Gruppe. Stéphane (Damien Bonnard) wird als dieser Gruppe zugeteilt, wir verfolgen seine Ankunft in der Stadt und seiner Begegnung mit den fragwürdigen Methoden der Polizisten vor Ort. Einer von ihnen, Chris (Alexis Manenti), ist durch Racial Profiling, sowie einige körperliche und verbale Übergriffe berühmt-berüchtigt geworden. Scheinbar schreckt er vor nichts zurück um seine Autorität zu beweisen. Die Kamera nimmt uns mit auf Streife und zeigt die Banalität der alltäglichen Gewalt und den Versuch Herr der Lage zu werden.

Doch wie lebt es sich auf der anderen Seite? Wie fühlt es sich an, ständig von Polizisten patrouilliert zu werden, ohne Ausweg und ohne Aussicht auf ein besseres Leben? Die Bewohner scheinen gefangen in ihrer Banlieue, doch der Zuschauer versteht weshalb sie stolz auf ihre Art zu leben sind. 

Aggressivität und Misstrauen

In der ersten Szene sieht man, wie die Jugendbande die Bahn nach Paris nimmt, um dort ausgelassen vor dem Eiffelturm und Triumphbogen den Sieg der französischen Nationalmannschaft bei der Fußball- Weltmeisterschaft zu feiern. So euphorisch wird man sie den Rest des Films nicht mehr sehen. Die Rückkehr in die Vorstadt bringt auch alte Verhaltensmuster, voller Aggressivität und Misstrauen, zurück. Am Ende stellt sich die Frage: Wie kann man der aggressiven Jugend helfen, bevor das Pulverfass explodiert?

Als ein Löwenbaby entführt wird, eskaliert die Situation zwischen der Jugendbande und den Polizisten durch einen Schuss. Montfermeil wird zur Kampfzone, dessen Gewaltorgie in einer unvergesslichen letzten Szene endet. Eindrucksvolle Kameraarbeit und großartige schauspielerische Leistungen erhöhen die Darstellung zu einer Art Ghettopoesie, die sich nie wie ein Film anfühlt, sondern dokumentarisch anmutet.

Der Regisseur Ladj Ly, der selbst in diesem Viertel aufgewachsen ist, wollte ein möglichst realistisches Bild dieser Stadt zeichnen und arbeitete mit vielen Kindern und Jugendlichen aus dem Stadtteil zusammen, was den Film besonders authentisch macht. Les Misérables wurde bereits in Montfermeil vorgeführt und sehr positiv aufgenommen. Bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes gewann der Film den Preis der Jury und ist nun auf dem Weg zu den Oscars. Klar ist: Keiner kann Sozialdramen so wie die Franzosen.

Les Misérables: Intensive Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Frankreichs

Wenn es einen Kritikpunkt gibt, dann das Die Wütenden eine ausschließlich männliche Perspektive einnimmt. Bei der Thematik der Polizeigewalt sei dies berechtigt, jedoch zeichnet es kein umfassendes Bild der Einwohner der Vorstadt. Dass die weibliche Erfahrung der Banlieue eine durchaus andere ist, sieht man in Filmen wie Mädchenbande von Céline Sciamma (die kürzlich mit Portrait einer jungen Frau in Flammen brillierte) und dem großartigen Film Divines (auf Netflix zu sehen). Hier werden weibliche Protagonistinnen afrikanischer und maghrebinischer Herkunft porträtiert und das weder in einer Opferrolle noch als Täterinnen. Sie werden einfach als junge Menschen gezeigt, die Fehler begehen und dennoch ihr Bestes versuchen.

Ladj Ly verdeutlicht, wie Gesellschaft und Individuen durch gegenseitiges Unverständnis die Ungerechtigkeit zur Permanenz machen. Es ist das Ziel dieses Films die andere Perspektive zu zeigen. Klar, gibt es Polizisten, die ungerecht und auch rassistisch handeln, doch es gibt auch solche wie Stéphane. Polizisten, die gewissenhaft versuchen, sich Respekt zu verschaffen und Ordnung in einem Umfeld herzustellen, welches einem alles abverlangt. Für die Jugendlichen, die unter der Perspektivlosigkeit und dem Rassismus leiden, verspürt man in der einen Minute Mitleid für sie und in der nächsten Wut auf sie.

Les Misérables ist eine intensive Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Frankreichs und dessen scheinbar unlösbaren sozialen Konflikte. Dieser harte, erschreckend realistische Film kann einem die Hoffnung auf eine bessere, gerechtere Gesellschaft nehmen. Aber er kann auch Hoffnung geben endlich etwas zu verändern.

Les Misérables – Die Wütenden
Regie: Ladj Ly
Länge: 103 Min
Kinostart: 23.01.2020
Produktionsland: Frankreich

Fotos © Wild Bunch/Alamode