Anderthalb Stunden lang sprach Werner Herzog auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin mit Jan Brandt über das Thema Landschaft in Trance. Nicht als Regisseur stand Werner Herzog dabei im Mittelpunkt. Das Gespräch verschob den Fokus vielmehr auf dessen literarisches Werk und fand in der Suche nach „ekstatischer Wahrheit“ das poetologische Fundament, das die filmischen und literarischen Werke Herzogs miteinander verbindet.

Dass der mittlerweile 81-jährige Werner Herzog längst zur Ikone des deutschen und internationalen Films geworden ist, wurde bereits in den Anekdoten deutlich, die schon vor Veranstaltungsbeginn durch die Reihen wartender Gäste zirkulierten – Erzählungen, die längst in die Filmgeschichte eingegangen sind, von der Bergüberquerung samt Schiff bei den Dreharbeiten zu Fitzcarraldo etwa oder den Auseinandersetzungen mit Klaus Kinski. Milde jedoch war Herzog an diesem Abend nicht gegenüber dem Medium gestimmt, das ihn berühmt gemacht hat: „Ich glaube, wir sollten nicht so viel von Filmen reden“, schlug er vor und fuhr fort: „Meine Filme sind nichts als eine Ablenkung, und zwar deswegen, weil ich seit mehr als vierzig Jahren schon zu tauben Ohren predige. Das, was ich geschrieben habe, wird meine Filme überleben, wird längere Dauer haben. Weil ich weiß, dass es besser ist, als fast alles, was Sie zu lesen bekommen können.“ Dem Gespräch war entsprechend daran gelegen, Herzogs schriftstellerisches Werk in den Blick zu rücken. Was er am Schreiben im Vergleich zum Film schätze, sei die Unmittelbarkeit. „Bei Filmen sind immer Finanzen und Organisation und wahnsinnige Schauspieler und technisches Gerät und Schnitt und was auch immer dazwischengeschaltet.“ Beim Schreiben hingegen sei eine „direktere Substanz, eine direktere Stimme“ da. Und so trug Herzog im Verlauf des Abends mit seiner eigenen, unverwechselbaren, fast heiser klingenden Stimme immer wieder Passagen aus seinen Büchern vor. Statt sich noch einmal den berühmt gewordenen Anekdoten der Filmwelt zu widmen, folgte das Gespräch zwischen Herzog und Brandt einem Parcours, den Herzogs Prosabücher Die Eroberung des Nutzlosen (2004), Vom Gehen im Eis (2009), Das Dämmern der Welt (2021) und seine Autobiographie Jeder für sich und Gott gegen alle (2022) vorgaben.

“Auch Landschaften lassen sich lesen”

Mit Blick auf Landschaftsbeschreibungen versuchte das Gespräch dabei, das Verhältnis von Landschaft und Literatur und die Austauschprozesse zwischen Landschaft, Schreiben und Lesen auszuloten. Auch Landschaften – so Herzog – lassen sich lesen. Durch Lesen wiederum könne man sich „eine Orientierung verschaffen“, es sei deswegen etwas für alle, „die sich die Welt nicht mehr erklären können“. Das Gehen durch Landschaften wird so zum Anlass des Schreibens, die Landschaft zuweilen zum ersten Bild, das der Schreibende vor Augen hat, wie Herzog anhand des Beginns von Das Dämmern der Welt deutlich machte: „Manchmal lösen sich Landschaften nicht nur in Bilder, sondern in ganze Kurzromane auf.“

„Landschaft in Trance“ bedeutet dabei keine verzerrte Wahrnehmung der Landschaft, sondern deren Fähigkeit, ihre Betrachter*in in Trance zu versetzen. Wenn Herzog von Landschaften erzählt, werden diese exzentrisch. Etwa in der Erzählung jener Kindheitserinnerung an die brennende Stadt Rosenheim, die den Himmel rot und orange pulsieren ließ und so eine Landschaft produzierte, „die wahnwitzig geworden war“. Wenn Landschaften und Bilder aus ihren Fugen geraten, im Wortsinn ver-rückt werden, produziere das eine „ekstatische Wahrheit“. In der Suche nach dieser „ekstatischen Wahrheit“ liegt – das wurde im Verlauf des Gespräches deutlich – das poetologische Credo Herzogs und er selbst stellte sich damit an diesem Abend in eine literarische Tradition, die von Hölderlin über Büchners Lenz bis zu Robert Walser reicht. Er selbst sei übrigens klinisch gesund, fügte Herzog angesichts der Tatsache an, dass dies auch eine Tradition von psychischen Krankheitsfällen ist.

Die Abweichung vom Faktischen, der Einspruch der Fiktion gegen alle nur faktenorientierte Wahrheit verbindet dann auch Herzogs Tätigkeit als Schriftsteller und als Regisseur, etwa wenn er in seinem Film Lektionen in Finsternis Blaise Pascal ein frei erfundenes Zitat zuschreibt:  „Der Zusammenbruch der Sternenwelten wird sich – wie die Schöpfung – in grandioser Schönheit vollziehen“, erscheint nach der Titelsequenz als angebliches Zitat von Pascal. „Das ist von mir erfunden, nicht von Pascal geschrieben. Und im Übrigen“, fügte Herzog an, „hätte das Pascal auch nicht besser sagen können. Die Tatsache dabei ist, dass ich das Publikum, bevor der Film anfängt, auf ein Niveau hochhebe, von dem ich es nie wieder herunterlasse, durch den ganzen Film hindurch.“ Schon 2024 wird sein nächstes Buch veröffentlicht werden: Die Zukunft der Wahrheit. Der Titel klinge zwar eher nach einer Essaysammlung, aber es sei vielmehr „wildes, hemmungsloses Storytelling“. Noch einmal also eine Suche nach der ekstatischen Wahrheit des Fiktionalen? Ob bereits weitere Buchprojekte geplant seien, wollte Jan Brandt wissen. Er könne versichern, so die Antwort Herzogs, „solange ich schnaufen kann, kommt da irgendwas.“


Foto: Schirin Moaiyeri