Diskriminierende Lehrer*innen, ungleiche Ressourcen und mangelnde Förderung. Bildungsungleichheit kann Chancen verwehren und Türen schließen. Wie Schüler*innen dagegen ankämpfen und zu Türöffner*innen werden.

„Es gab Lehrer, die unbedingt versucht haben, mich vom Gymnasium runterzubekommen“. Die 17-jährige Nargez Ibrahimi ist vor zwölf Jahren mit ihren Eltern aus Afghanistan geflohen. „Nach der zehnten Klasse sagten sie mir, ich soll vom Gymnasium gehen, weil ich die Oberstufe nicht schaffen würde und mir die Anstrengungen sparen könnte“, erklärt sie und blickt bedacht in ihre Webcam.

Die Schülerin hat nicht auf die Stimmen dieser Lehrer*innen gehört. Sie hat auf ihre eigenen Fähigkeiten vertraut, sich an die Menschen gehalten, die sie unterstützt haben und an ihre Träume geglaubt. „Gerade warten wir alle gespannt auf die Ergebnisse unseres Abiturs“, erzählt sie. Schnell weicht die anfängliche Unsicherheit aus dem Gesicht der jungen Frau und wird von einem klaren, selbstbewussten und dennoch warmen Blick abgelöst.

Nargez steht an einem wichtigen Wendepunkt ihres Lebens. Die Schule neigt sich dem Ende zu und Fragen rund um den beruflichen Weg drängen sich auf. Fragen, die bei vielen Schüler*innen Ratlosigkeit, Angst oder Überforderung auslösen. Denn oft wissen sie nicht, welcher berufliche Weg der richtige für sie ist. Nicht so bei Nargez. Sie weiß ganz genau, welche Träume sie verfolgt. „Es gibt für mich zwei Arten von Träumen“, reflektiert sie. „Ich persönlich möchte einfach ein friedliches Leben führen. Und dann gibt es den anderen Traum, wo ich mich für den politischen Frieden in der Welt einsetzen möchte.“

Besonders dieser Traum ist es, der die Schülerin aktuell begleitet und sie dazu bewegt hat, sich für ein Studium mit dem Hauptfach Politikwissenschaften zu entscheiden. Wie fern diese Träume jedoch manchmal sein können, musste Nargez sehr früh erfahren. Denn zwischen Floskeln wie „Leb deine Träume und träume nicht dein Leben“ oder „Make your Dreams come true“ liegt vor allem eins: die Realität. Und die sieht nun mal – fernab der Postkartenpoesie – ganz anders aus.

Schulsystem fängt Ungleichheiten nicht auf

Das deutsche Bildungssystem reproduziert Ungleichheiten. Laut Studien der Hans-Böckler-Stiftung entstehen sie vor allem durch die schichtspezifischen Unterschiede der Familien. Die Ungleichheiten des familiären Kapitals, sei es kulturell oder finanziell, werden laut zahlreichen Leistungsstudien – wie der IGLU-Studie – vom Schulsystem nicht aufgefangen. Die Benachteiligung trifft damit auf direktem Wege die, die am wenigsten etwas dafür können: die Schüler*innen.

Zudem zeigen Studien eine Diskriminierung von Schüler*innen aus Einwanderer*innenfamilien auf. Dass die Bildungsungleichheit marginalisierte Gruppen von Schüler*innen trifft, ist nicht verwunderlich. Denn wie so oft, wenn es um Benachteiligungen jeglicher Art geht, nimmt auch hier die Intersektionalität eine zentrale Rolle ein. Mehrere zu Benachteiligung führende Faktoren laufen wie ein roter Faden zusammen, verfangen sich und werden zu einem großen, kaum zu entzerrenden Bündel an Diskriminierungen. Dieses Bündel kann im Schultag unterschiedlich groß ausfallen.

„In der dritten Klasse hatte ich eine sehr diskriminierende Lehrerin. Die anderen ausländischen Kinder und ich waren immer Opfer ihrer Attacken und haben stetig diskriminierende Dinge gesagt bekommen“, erklärt Nargez gefasst. Die Stimme der 17-Jährigen ist sehr klar, als sie darüber spricht. Dennoch wird deutlich, wie sehr diese Ereignisse die Schülerin geprägt haben.

„Ich erinnere mich noch daran, wie sie zu meinem Mitschüler Ibrahim sagte, dass aus ihm in vierzig Jahren nur der Müllmann wird, der ihren Müll wegbringt“, blickt Nargez auf die Schulzeit zurück. „Zu uns allen sagten die Lehrer immer, dass das Gymnasium nichts für uns ist und die höhere Schule den Deutschen vorbehalten sei. Das ist sehr demotivierend gewesen“, erklärt sie.

Ein Problem am Bildungssystem sei aus ihrer Sicht die frühe Trennung nach der Grundschule und die Empfehlung der Lehrer*innen. „In meiner Klasse haben damals eigentlich nur deutsche Schüler eine Empfehlung für das Gymnasium bekommen.” Sie holt Luft und setzt erneut an: „Aber ich habe es da raus geschafft.”

Ein eigenes Förderwerk gegen die Bildungsungleichheit

Doch was kann man tun, damit die eigenen Träume nicht bereits auf dem Schulhof zerplatzen? Diese Frage stellt sich auch Sagithjan Surendra, Gründer des Aelius Förderwerks. Der 22-jährige Student ist in Nürnberg geboren und aufgewachsen. Seine Eltern sind Kriegsgeflüchtete aus Sri Lanka. „Schule war für mich immer eine Mischung aus zwei Welten. Zum einen war sie ein Safe Space, in dem ich vieles entfalten konnte, was zu Hause nicht ging. Zum anderen war sie der Ort, der mir immer total fremd war. Es war einfach eine andere Lebensrealität als die, in der ich selbst aufgewachsen bin“, erklärt der Student.

Auch wenn er selbst auf einen geradlinigen, ganz klassischen Schulweg zurückblicken kann, erinnert er sich noch genau an die Hürden, vor denen auch er und seine Familie standen. „Meine Schulzeit war klar davon geprägt, dass der finanzielle Aspekt für meine Familie und mich immer eine riesige Frage war. Seien es die 20 Euro Papiergeld, die die Schule braucht, oder die Schulfahrten, die ein paar hunderte Euro gekostet haben.“

Rückblickend auf seine Schulzeit sagt er, dass der Schule oft die Sensibilität dafür gefehlt habe, aus welcher Lebensrealität die Schüler*innen kommen. „Bis heute hat sich daran kaum etwas geändert”, so Sagithjan. Grund genug für ihn, sein eigenes Förderwerk ins Leben zu rufen. Dieses richtet sich nicht nur an Menschen mit Migrationshintergrund, sondern an all jene, die vor Herausforderungen in der Schule stehen. „Wir versuchen nicht, das Bildungssystem zu ersetzen. Aber wir versuchen, da anzusetzen, wo Schule es aktuell nicht tut oder nicht kann.“

Schule und Förderung können Hand in Hand gehen

Mehr als 7.000 Schüler*innen haben bereits Unterstützung durch das Aelius Förderwerk erhalten. So auch Nargez. Die Schülerin hat es dank der Initiative auch abseits des Klassenzimmers geschafft, ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln und ein Netzwerk aufzubauen. Zudem hat sie Gleichgesinnte kennengelernt.

Auch die 18-jährige Natalia Bernhardt wird gefördert. Sie wurde von ihrer Lehrerin auf das Förderwerk aufmerksam gemacht. „Mein Traum ist es, Menschen zu helfen. Ich würde gerne der Welt etwas geben, das bleibt. Ich denke, das ist der Sinn meines Lebens“, erklärt sie strahlend. Etliche Ideen, wie diese Hilfe aussehen könnte, sprudeln aus der Schülerin heraus. „Meine Träume sehe ich genau vor mir. Ich stelle sie mir dann im Kopf vor”, sagt sie. Sie sehe, wie sie bei der Eröffnung ihres eigenen Kinderheims die Schleife durchschneide. „Ich sehe das alles. Und das gibt mir die Kraft zu wissen, dass ich das schaffen werde“, erklärt sie.

Unterstützung bekommt die Schülerin dabei sowohl von der Schule als auch vom Förderwerk. Ihre Geschichte zeigt, wie gut die Arbeit der Schule und begleitende Programme Hand in Hand gehen können, wenn Lehrer*innen auch auf die außerschulische Förderung ihrer Schüler*innen bedacht sind. Ein Beispiel, welches leider noch Seltenheit zu sein scheint.

Was Schüler*innen wie Nargez und Natalia eint, ist ihr unaufhaltsamer Wille. „Wenn du es nicht allein schaffst, such dir Unterstützung”, rät Nargez. „Viele Schüler wissen nichts von den Förderwerken oder glauben, sie wären nicht gut genug dafür. Besondere Leistungen werden aber gar nicht erwartet”, sagt sie. „Traut euch!” Während des Appells wird ihre Stimme lauter. Der Blick der 17-Jährigen wirkt klar, ihre Augen strahlen. Sie möchte alle ermutigen, Hilfe einzufordern. Insbesondere, wenn es um die Erfüllung der eigenen Träume geht.


Dieser Text ist in der UnAufgefordert #257 zum Thema Träume und Zukunft erschienen. Weitere Beiträge aus dem Heft lest ihr hier.

Foto: Jon Tyson
Illustration: Christina Peter