Wenn der Pinsel feiner wird, ist das ein gutes Zeichen. Das hat James Lord inzwischen verstanden. Giacometti neigt sich dann zur Leinwand, tupft den Pinsel in die graue Farbe und setzt gezielte Striche. Alles sollte nur ein paar Stunden dauern, höchstens eine Woche, hat der Meister gesagt. Dann sei das Portrait fertig. Wäre da nicht der dicke Pinsel, den Lord so sehr fürchtet. Wusch! Nur die Augenpartie, die kann bleiben. Im Chaos künstlerischen Schaffens gibt es kein Ende.

Für James Lord (Armie Hammer) ist das ein Problem. Er muss erneut seinen Heimflug verschieben. Denn der große Künstler Alberto Giacometti wird nicht fertig. Er unterbricht seine Sitzungen lieber, geht mit James spazieren oder ins Bistro. Dort isst er zwei hartgekochte Eier und trinkt dazu drei Gläser Wein. Geht es jetzt besser? Nein. Alles andere sei unehrlich, sagt Giacometti. Er zerstört, beginnt von vorn und vertröstet seinen Kunden wieder einmal: „James, morgen fangen wir an!“.

Stanley Tucci, der aus vielen Filmen bekannte und beliebte Schauspieler (Der Teufel trägt Prada, Burlesque, Spotlight) hat seine fünfte Regiearbeit dem Schweizer Künstler Alberto Giacometti gewidmet. Das Drehbuch basiert auf der Biographie A Giacometti Portrait von eben James Lord.

Giacometti bittet den amerikanischen Kunstkritiker Lord, für ihn Modell zu sitzen. Dieser willigt ein und ahnt nicht, worauf er sich da einlässt. Von Giacomettis Atelier aus entspinnen sich immer wieder neue dramaturgische Nebenstränge, die den Film höchst unterhaltsam machen. Dabei wäre dies vielleicht gar nicht nötig gewesen, denn der zerstreute Giacometti und der etwas spießige Lord sind ein Traumpaar, deren alleiniger Anblick über die gesamte Filmlänge nicht langweilig geworden wäre. Das liegt sicher auch am Charakter des echten Giacometti, der sehr lustig gewesen sein muss und an Geoffrey Rush, der ihn wie erwartet ganz großartig und lustig spielt.

Neben Alkohol und Zigaretten liebt Alberto Giacometti die Prostituierte Caroline (Clèmence Poèsy), bei der allerdings fraglich ist, was der Künstler an ihr findet. Er schenkt ihr Zuneigung und viel Geld. Sehr zum Ärgernis seiner Ehefrau Annette (Sylvie Testud), die es am allerwenigsten versteht. Er braucht Caroline. Weshalb, bleibt Giacomettis Geheimnis. Als sie für einige Tage verschwindet, verzweifelt er nur noch mehr als sonst schon. So ist er eben, sehr eigen. Mit dem zerzausten Haar, dem gekrümmten Gang, der Gleichgültigkeit, dem larmoyanten und stets unzufriedenen Gebrumme. Daran sei der Erfolg schuld, sagt er. Mit ihm wachsen Giacomettis Selbstzweifel.

Er ist 1964, dem Jahr, in dem der Film spielt, längst ein etablierter Künstler. Seine lang gezogenen Gesichter und Körper, seine Skizzen und Portraits erzielen Rekorderlöse auf dem Kunstmarkt. Doch er schert sich nicht um Geld und malt und wohnt weiterhin in einem heruntergekommenen Haus. Ständig vergisst er, wo er die Millionen versteckt (auf dem Klo). Er verachtet Picasso und die Oper, verehrt jedoch Cézanne. Bisweilen zerstört er seine eigenen Zeichnungen. Ein echter Kauz. Ein wahnsinniges Genie.

Final Portrait ist ein voll auf gelungener Film und selbst ein gelungenes Portrait. Tucci verzichtet fast komplett auf die Paris-Romantik, auf die Literaten- und Künstlerkreise in den Cafés. Keine Chansons und nur ein paar wenige Baguettes. Stattdessen viel glaubwürdiger Giacometti. Das liegt auch an der Kameraführung, die beweglich durch die Werkstatt schwingt und dem Zuschauer eine Beobachterposition zuteilt.

Außerdem hat Tucci Giacometti gut studiert. Die Atmosphäre im Atelier vermittelt das, was für den echten Künstler wichtig war – die Wahrnehmung des negativen Raumes. Denn die Kunstwerke, die Knetmasse, die dünnen Gesichter, die mit ihrem Meister zu sprechen scheinen, stehen nicht einfach so im Atelier herum. Sie stehen stellvertretend für Giacometti und sein Wesen. Die Farben des Filmes variieren meist nur zwischen Ocker- und Schlammtönen. Die einzigen Akzente sind das gelbe Kleid der Ehefrau und der rote Schal der Geliebten. Der Film selbst ist im monochromen Stil des Malers gehalten, eine schmutzige Sphäre umgibt den großen Giacometti.

Der kreative Kreislauf Giacomettis, seine Arbeit am Portrait von James Lord wird über 18 Tage nacherzählt. Sie beginnt mit den Sitzungen im Atelier, wird durch das Sinnieren oder Spaziergänge unterbrochen und endet stets in Giacomettis Unzufriedenheit. Sein Bruder Diego (Tony Shalhoub), ebenfalls Künstler, kennt den Prozess und sagt, Alberto sei nur glücklich, wenn er perfekt unzufrieden ist. Wenn er so richtig verzweifelt. Demzufolge dürfen wir uns Giacometti doch als glücklichen Menschen vorstellen.

Bären-Potential: “Final Portrait” ist ein vergnüglicher und ein wirklich sehenswerter Film. Er läuft zwar außer Konkurrenz aber wäre dennoch kein Kandidat für Bären. Dafür ist er zu unaufdringtlich und zu wenig unbequem. Einen Bären braucht der Film vielleicht auch gar nicht.

BZQ-Punkte: Für Kunsthistoriker und Humoristen.

Kuschelfaktor: Die Beziehung zwischen Alberto Giacometti und seinem Modell James Lord ist herzerwärmend.

Prokrastinationspotential: Bitte weggucken! Der Film ist fatal. Es geht um eine Arbeit, die einfach nicht fertig werden will. Hmpf.

UnAuf-Punkte: 4 von 5

Final Portrait: Regie: Stanley Tucci . Mit: Geoffrey Rush, Armie Hammer, Clèmence Poèsy, Tony Shalhoub u.a.

 

Foto:

© Parisa Taghizadeh