Bei genauerer Betrachtung der Spielpläne der Hauptstadt lassen sich auch immer wieder ganz besondere kulturelle Filetstücke finden, die auf den ersten Blick nicht als solche daherkommen. Ganz abseits der großen Bühnen und leider ein wenig unter dem allgemeinen Radar agiert das Renaissance-Theater an der Knesebeckstraße, das sich in der laufenden Spielzeit anlässlich seines 200. Todestag dem großen deutschen Schriftstellers E.T.A. Hoffmann widmet.

Einige Lesende dieses Textes wird der Name E.T.A. Hoffmann auf bittersüße Weise an die Zeit des Abiturs erinnern, das für die Meisten wohl schon erschreckend lange her ist. In vielen deutschen Bundesländern standen Werke wie ,,Der goldene Topf‘‘ oder ,,Der Sandmann‘‘ fest im Curriculum und wurden seinerzeit bis zum Steinerweichen analysiert. Wo bei diesem ständigen Analysieren, Interpretieren, Abwägen und Überlegen, das doch meist im Rahmen des Deutschunterrichtes an einem der vielen Provinzgymnasien dieses Landes stattfand, oft die Leidenschaft, die Lust, die in den Werken Hoffmanns steckt abhandenkommen musste, ist es dem Renaissance Theater nun gelungen, genau diese wieder freizulegen. Der österreichische Schauspieler Michael Rotschopf betätigt sich hier als Rezitator und – das kann man schon an dieser Stelle sagen – brilliert auf eindrückliche Weise.

Doch vorweg einige Worte zu dem sträflich unterschätzten Renaissance-Theater. Kein Staatstheater, kein Hoftheater – nein, es handelt sich hierbei um ein echtes Privattheater. Ein Haus, das die vielen Wellen des Theatersterbens überlebt hat und uns als eine der letzten Erinnerungen an eine Zeit verbleibt, in der das Theaterwesen in Berlin blühte. Eine Zeit, in der fast in jedem Hinterhof irgendwer ein kleines Theater, ein kleines Varieté betrieb. Im Falle des Renaissance-Theaters war es der völlig mittellose Student Theodor Tagger, der 1922 das damalige ,,Terra-Kino‘‘ kauft, es zum Theater umbaut, von hier die ,,Renaissance des deutschen Theaters‘‘ einleiten will und schon 1926 gänzlich pleite ist. Mit Unterstützung eines Mäzens lässt er darauf hin das Haus erneut umbauen und schafft ein Juwel des Art Deco.

Ja, auch heute – genau 100 Jahre nachdem Theodor Tagger nach Berlin gekommen ist, strahlt sein Theater an der Knesebeckstraße einen ganz besonderen Reiz aus und schon von außen macht das Haus einen interessanten Eindruck. Es läuft spitz zu, erinnert ein wenig an eine Scheune als an ein Theater, in riesigen leuchtenden Lettern steht der Name über dem Eingang – Renaissance-Theater. Dann zieht es einen durch kleine Eingangstüren in einen Traum aus Samt und Art Deco. An der Abendkasse sitzt hinter einem Schiebefenster die obligatorische schlecht gelaunte Dame mit einer Halbmondbrille auf der Nase, die an einer langen Haltekordel befestigt ist. Über die enge Wendeltreppe geht es in den prächtigen großen Saal, der vor gestalterischen Art-Deco-Juwelen nur so strotzt. Noch übertroffen wird der große Saal des Hauses allerdings vom etwas kleineren Bruckner-Foyer. Eine ovaler Saal, mintfarben gestrichene Wände, an diesen große Spiegel, der Boden mit dunkelrotem Teppichboden ausgelegt und an der rechten Seite eine kleine Bar, die sich wunderbar in die Raumkomposition einfügt. Es ist eine intime Atmosphäre, ein wenig wie ein Salon, in dem sich dickbepuderte Bürgerfrauen zum Tee treffen. Doch hier gibt es kein Tee, sondern große Kunst.

Michael Rotschopf schafft es, das Publikum zu fesseln – ja, in Atem zu halten. Foto: privat

Diese große Kunst liefert an jenem Abend der bereits erwähnte Michael Rotschopf. Schnellen Schrittes eilt er auf die kleine Bühne, das Licht erlischt und sofort breitet sich diese ganz gewisse Stimmung des Unheimlichen aus, das Oeuvre Hoffmanns ist präsent. Ganz in schwarz gekleidet beginnt Rotschopf seinen Abend damit aus den Briefen Nathanaels an seinen Freund Lothar sowie die folgende Korrespondenz zu lesen. Rotschopf hat tatsächlich echte Briefe bei sich, dessen Siegel er mit großer Geste bricht, um auf eindrückliche Weise vorzutragen. Und so zieht er den Spannungsbogen über fast zwei Stunden auf. Ihm gelingt, woran schon so viele gescheitert sind: Den langsamen Verfall Nathanaels in den Wahnsinn, bis hin zum vom Assoziationszwang ausgelösten Selbstmord, detailreich, ja fein ziseliert abzuzeichnen.

Rotschopf verleiht den verschiedenen Charakteren des Werkes jeweils perfekt passende Schattierungen und hebt die eigentliche Botschaft des Werkes treffsicher hervor: der Streit zwischen Nathanael und Clara, die unterschiedlichen Blicke auf die Welt, die Hoffmann darstellt sind zugleich ein Widerstreit verschiedener Epochen. Da ist einerseits Nathanael, der im wilden Phantasieren alte Kindheitstraumata, ausgelöst durch schaurige Märchen mit Erlebnissen seiner Gegenwart, verknüpft und sich schlussendlich noch in eine Holzpuppe verliebt, nur weil sie – anders als seine Verlobte Clara – keine Widerworte gibt. Clara dagegen (und da ist schon der Name Programm!) ist die Hellsichtige. Sie sucht aufgeklärte, naturwissenschaftliche Erläuterungen für die physischen Leiden Nathanaels und wird, weil sie ihn hinterfragt und kritisiert, von Nathanael schließlich durch die Holzpuppe Olimpia ersetzt. Was also als Konflikt zwischen Romantik (Nathanael) und Aufklärung (Clara) dargestellt wird, hat bei kontemporärer Betrachtung sogar noch eine feministisch-politische Dimension. Nathanael, der geprägt ist durch ein patriarchales System, zieht eine schweigende Holzpuppe der rechtschaffenen, intelligenten Clara vor, weil er es nicht erträgt, dass seine Vorstellungen (die bei ehrlicher Betrachtung reichlich abstrus daherkommen) hinterfragt und als Spinnerei enttarnt werden. Er kann es nicht verwinden, dass eine Frau – die er zudem für weniger intelligent hält – die Autorität seiner Gedankenwelt infrage stellt.

Doch das ist nicht die Einzige Dimension dieses Werkes, das Michael Rotschopf an diesem Abend so trefflich in Szene setzt. Einer der berühmtesten Rezeptionen dessen hat Siegmund Freud geliefert, der die Angst Nathanaels, der ,,Sandmann‘‘ könnte ihm seine Augen rauben, auf eine eigentlich maßgebliche Kastrationsangst zurückführt. Dabei verbindet er das Auge und das männliche Geschlecht entlang ihrer Wichtigkeit für das Überleben des Menschen selbst, bringt vor, beide würden mit einer besonderen Obacht bewacht. Augenangst wird hier zur Kastrationsangst.

Man muss diesen Interpretationen nicht folgen und diese Kolumne ist auch keineswegs ein germanistisches Seminar, in dem ,,Der Sandmann‘‘ analysiert werden soll. Es geht einzig und allein darum, zu zeigen, wie mannigfaltig, wie eindrücklich dieses Werk daherkommt und wie sehr sich die Befassung mit einer solch multidimensionalen Erzählung lohnt. Ein Anfang könnte da ein Besuch des Renaissance-Theaters sein, in dem in diesem Jahre noch viele Veranstaltungen zum Werke E.T.A. Hoffmanns gegeben werden.


Hier geht es zum Spielplan des Renaissance-Theaters.

Foto: privat