Denise Buser hat sich mit den Lebensgeschichten und Werken von dreizehn Dichterinnen verschiedener Zeiten und Orte auseinandergesetzt. In „Dichten gegen das Vergessen“ lädt sie zu einem literarischen Streifzug durch zwei Jahrtausende ein. Zwischen historischen Epochen und kulturellen Kontexten entsteht ein vielschichtiger Dialog über die Kraft der Sprache und die weibliche Perspektive in der Literaturgeschichte.
In ihrem neuen Buch erzählt die Basler Autorin Denise Buser dreizehn Geschichten. Sie handeln von dreizehn Frauen, die zu unterschiedlichen Zeiten und unter verschiedenen sozialen Bedingungen Lyrik produzieren. Auf der Arabischen Halbinsel des 7. Jahrhunderts lebte die Dichterin al-Khansā’, im Frankreich des 12. Jahrhunderts die Comtessa Beatriz de Dia und in Japan um 1900 Akiko Yosano, um bloß drei dieser Begegnungen zu nennen. Als Leser bot sich mir ein Anlass, mich zum ersten Mal mit Autorinnen zu befassen, von denen ich, wenn überhaupt, bloß den Namen kannte.
Was bedeutet das, einen Namen zu kennen? Vielleicht ist es die Möglichkeit eines Anfangs, einer Annäherung. In der Lektüre von Busers Buch verbindet sich jeder Name mit einer lyrisch-biografischen Erzählung. Doch bevor ich auf meine Leseerfahrung näher eingehe, folgender Einwand:
Ein solches Buchprojekt wirft die Frage auf, inwiefern es möglich ist, Aussagen über gesellschaftliche Erfahrungen zu machen, die nicht die eigenen sind. Die politische Frage nach der Legitimität solcher Aussagen ist in westlichen Ländern Gegenstand von Debatten im Kontext künstlerischer Freiheit und sozialer Gerechtigkeit geworden. Sprache reproduziert Gesellschaft, festigt Herrschaft. Öffentliche Repräsentation und Artikulation jenseits der Mehrheitsgesellschaft bleiben hingegen oft prekär.
Der Vorstellung einer universellen Empathie als Fähigkeit, über räumliche, zeitliche und soziale Grenzen hinweg eine andere Perspektive einzunehmen, steht heute ein stärkeres Bewusstsein für historische und gegenwärtige Gewaltgeschichten gegenüber. Kann das Einfühlen einen problematischen Übergriff bedeuten, der Machtasymmetrien ausblendet? So wird auch die Entstehung eines bürgerlichen Bildungs- und Wissenskanons heute vermehrt in ihren historischen Verstrickungen betrachtet. Wer spricht, wer schreibt über wen? Und für welches Publikum? Und kommen diejenigen, von denen erzählt wird, selbst zu Wort? Edward W. Said hat 1978 in seinem Buch „Orientalism“ die Bedeutung stereotyper Bilder nicht-europäischer „Anderer“ in der europäischen Literaturgeschichte als Mittel der Konstruktion nationaler Narrative von „Europa“ veranschaulicht. Diese Narrative konstituierten sich in einem rassistischen und imperialistischen Blick auf „den Osten“, so Said. Es sind Bilder, die in der gesellschaftlichen Überlieferung fortdauern.
Ist es also möglich, sich als Mitglied einer privilegierten weißen Mittelschicht schreibend in anders situierte, auch nicht-weiße oder nicht-christlich sozialisierte Erfahrungswelten hineinzuversetzen, ohne eine Geschichte gewaltsamer Aneignungen und reproduzierter Stereotype fortzusetzen? Ohne das Vorangegangene verharmlosen zu wollen, halte ich es für unzureichend, in dieser Dichotomie zu verharren. Denn auch die Erfahrungswelt der Autorin fügt weitere Ebenen hinzu. Wer spricht hier also, wer schreibt über wen? Die Frage nach der Annäherung ist auch eine künstlerische und eine persönliche. Denise Buser schreibt als Autorin über Autorinnen, über die Präsenz und die Abwesenheit weiblicher Stimmen in der Geschichte der Lyrik und der Literatur. Neben der gesellschaftlichen Überlieferung gibt es auch ein gesellschaftliches Vergessen.
Indem die Lyrikerinnen in zahlreichen Passagen für sich sprechen, wird die Differenz der Erfahrungen deutlich. Buser erzählt von Leben und Werk, indem sie bestimmte tatsächliche und gedichtete Ereignisse, Beziehungen und Dialoge fiktionalisiert und dabei auch sich selbst einbezieht. So wirkt das Buch auf mich wie ein fortlaufender Dialog mit den Protagonistinnen, der nicht mit der letzten Seite endet. Eine Empathie, die aus wissenschaftlicher Recherche entsteht, aus dem Eintauchen der Autorin als Leserin in die Werke und Biografien und im Erzählen dieser Begegnung der eigenen mit einer anderen Biografie.
Buser hat in verschiedenen Genres publiziert, neben juristischer Fachliteratur gehören auch lyrische und belletristische Arbeiten dazu. Sie schreibt mit empathischer Neugier über ein Metier, das auch das ihre ist. Es ist eine Neugier, die sich weder Position noch Stimme der erzählten Person anmaßt. Der Standpunkt der Autorin – das wird beim Lesen spürbar – ist durch diese von ihr empfundene Verbundenheit gekennzeichnet. Ihre persönliche Motivation, ihr Suchen und ihre Freude an der Sprache sind Teil der Erzählung.
Auf die einzelnen Texte folgen jeweils knappe biografische Informationen. Es geht hier weder um Vollständigkeit noch um einen autoritativen Wahrheitsanspruch. Ein solcher liefe der Möglichkeit von Begegnung, von Assoziation zuwider. Die lyrischen Passagen setzen den Kontext und werden im Anhang durch eine weitere Auswahl mit Übersetzungen ergänzt. Sie regen zum Weiterlesen an. Ferner ist jeder Text-Begegnung eine Literaturauswahl beigefügt.
Vor einem sich mit jeder Geschichte verändernden sozialen Hintergrund sind Liebe, Begehren und die gesellschaftliche Antwort darauf ein wiederkehrendes Thema. Frauen als dichtende Subjekte, Frauen als liebende, begehrende Subjekte, als politische Akteurinnen – in einem Großteil der geschilderten Gesellschaften ein Tabu. Dichten trotz allem, oder gerade wegen allem. Auch Themen wie Verlust, Scheitern, Hoffnungen und Illusionen bilden Verbindungen, ohne dabei persönliche Erfahrungen zu verwässern.
Nicht zuletzt bedeutet das Produzieren von Lyrik, sich der eigenen Existenz zu vergewissern. Gertrud Kolmar schrieb, während sie als Jüdin in ihrer Heimatstadt Berlin Zwangsarbeit verrichten musste. 1943 wurde sie in Auschwitz ermordet. Die Machthaber wollten jede Erinnerung an ihren Namen auslöschen, doch Kolmar konnte ihre Manuskripte mithilfe ihrer im Schweizer Exil lebenden Schwester retten. Ihr Name konnte sich posthum in die Geschichte der Lyrik einschreiben. Wie ungewiss und niemals abgeschlossen ein solches Sich-Einschreiben ist, zeigt Denise Buser in jeder Erzählung aufs Neue.
Im Buchtitel findet sich sowohl Busers Anliegen als auch jenes der von ihr vorgestellten Autorinnen wieder. Neben der ungebrochenen Kraft der Werke und der Bedeutung ihrer Entstehungsgeschichten lohnt dieses Buch nicht zuletzt, da seiner Autorin mit den Möglichkeiten der Sprache eine Annäherung gelingt. Differenz schließt Verbundenheit nicht aus.
„Dichten gegen das Vergessen. Lyrikerinnen aus zwei Jahrtausenden“ von Denise Buser ist im Zytglogge Verlag Basel erschienen.
Illustration: Lucia Maluga