Sexualisierte Gewalt ist ein in der Gesellschaft zutiefst tabuisiertes und stigmatisiertes Thema, in dem die Stimmen von Opfern untergehen. Ein Kollektiv aus sieben Frauen, die sich selbst als Sirenen bezeichnen, setzt dem Tabu und dem Stigma etwas entgegen, indem sie Opfern von sexualisierter Gewalt die Möglichkeit geben, ihre Stimme zu erheben.
„Sexualisierte Gewalt gegen uns – verbale, digitale, häusliche, emotionale. Wie hoch ist die Dunkelziffer, und wie bringen wir Licht ins Dunkel?“ Das ist die Fragestellung des Sirenen-Kollektivs. Wie viele Geschichten sind noch nicht erzählt worden, sind nicht Teil der Statistik? Bleiben im Schatten der Scham, Angst und Verdrängung zurück? Die Statistik ist eindeutig. Im Jahr 2023 wurden 52 Tausend Frauen und Mädchen in Deutschland Opfer von Sexualstraftaten. Nur fünf bis zehn Prozent der Straftaten wurden angezeigt.
Leere Hüllen werden zu lauten Stimmen
Diese Zahlen erschüttern. Gleichzeitig bleiben sie oft abstrakt, wie leere Hüllen, deren Inhalt man sich nicht vorstellen kann oder nicht vorstellen will. Real werden diese Zahlen erst, wenn die Geschichten dahinter wahrgenommen werden, wenn die Menschen gesehen werden, die hinter diesen Zahlen stehen, und man versteht: Das hätte ich sein können. Das Thema sexualisierter Gewalt braucht mehr Sichtbarkeit. Es geht um den Appell von Gisèle Pelicot, dass „die Scham die Seiten wechseln muss“. Gisèle Pelicot, die von ihrem Ex-Mann jahrelang betäubt und vergewaltigt wurde, äußerte diesen wichtigen und wahren Satz am Ende des Gerichtsprozesses letzten Jahres. Denn es ist wichtig, dass die Geschichten nicht von der Gesellschaft oder den Täter*innen erzählt werden, sondern von den Opfern, den Betroffenen, den Überlebenden – von den Menschen, die hinter den Zahlen stecken.
Die Künstlerin Lise van Wersch und die Musikerin Kim Hoss nahmen sich im Frühjahr 2023 genau das vor. Sie wollten einen aktivistischen Beitrag leisten, der das Thema sexuelle Gewalt behandelt und mehr Sichtbarkeit schafft. „Es sollte eine aktivistische Arbeit werden, die aber auch einen sehr künstlerischen Aspekt hat“, erklärt Leila Chu, eine der sieben ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen des Kollektivs, im Interview. „Die Idee war damals, die Internetseite www.thesirenscollective.com zu gründen, wo Opfer sexualisierter Gewalt ihre Geschichte hochladen können und diese Plattform immer weiter wächst, plakativ gesprochen wie eine Skulptur, aber wie wir im Kollektiv sagen, wie Sirenen.“
Vor zwei Jahren, am 8. März 2023, veröffentlichte das Sirens Collective das Online-Archiv. Die Gründerin Lise van Wersch und zwei weitere Sirenen des Kollektivs, Leila Chu und Tanja Stark, berichten im Interview von der Idee, die hinter dem Sirenen-Kollektiv steckt. Wenn jede Geschichte wie eine Sirene wäre, wie laut würde es eigentlich in der Welt sein?
Ein sicherer Raum für die Wahrheit
Nach der Veröffentlichung bekam die Plattform schnell Zulauf und in den letzten zwei Jahren kamen immer mehr Beiträge dazu. Tanja Stark beschreibt diese Beiträge als tiefe persönliche Einblicke und erklärt, dass es mittlerweile über 7.000 Einträge auf der Plattform gebe – 7.000 Geschichten von Menschen, die ein so starkes Vertrauen in die Plattform haben, dass sie eines ihrer wahrscheinlich bestgehüteten Geheimnisse teilen. Sie betont, dass es genau darum gehe: um das Vertrauen und den Raum, den diese Plattform biete. Denn in unserer Gesellschaft haben diese Straftaten selten Konsequenzen, da sie nur bedingt als Straftaten wahrgenommen werden. Vor allem sind es Geheimnisse vieler Frauen, Geschichten über den Nachhauseweg, Situationen, in denen sie sich nicht so „anstellen“ sollen, in denen sie es doch eigentlich gewollt haben. Es sind Geschichten, die zum Alltag werden, Geschichten, die im Alltag passieren. Im eigenen Zuhause am Häufigsten. Trotzdem wird geschwiegen. Kollektiv wird die Zahl 52.330 ignoriert und nicht als das Problem eingestuft, das sie ist.
Wenn man auf das Online-Archiv klickt, wird man gewarnt, es handle sich um „Real Life“. Eine dunkelblaue, schlichte Seite öffnet sich mit der Frage „What happened to you?“. Wenn man auf die Frage klickt, kann man seine Geschichte teilen. Informationen wie Name und der Ort, an dem die Geschichte stattfand, sind optionale Felder, die man beantworten kann, aber nicht muss. Danach hat man Platz, seine Geschichte zu erzählen. Im Archiv steht jede veröffentlichte Geschichte, oben drüber ist die Gesamtzahl der Einträge zu sehen, die mit jeder neuen geteilten Geschichte wächst. Tanja Stark erklärt dazu: „Es gibt da keine Hierarchie. Jede Nachricht, die geteilt wird, ist eine Stimme, die laut geworden ist und die da ihren Bestand hat und uns dabei hilft, miteinander laut zu sein und eben diese Dunkelziffer sichtbar zu machen.“ Neben dem Archiv finden sich auf der Website auch wichtige Informationen zum Hintergrund des Kollektivs sowie Kontakte zu unterstützenden Hilfestellen, die den Nutzer*innen zusätzliche Unterstützung bieten.
Im Online-Archiv gibt es drei Regeln: Es darf nur die eigene Geschichte geteilt werden; Informationen über die Person, die die Tat begangen hat, sowie Kritik oder Meinungen zu anderen Einträgen sind nicht erlaubt. Es soll als ein digitaler Safe Space dienen. Ein Raum, der Betroffenen die Möglichkeit gibt, sich der Welt anzuvertrauen. Tanja Stark moderiert das Archiv, sie kümmert sich darum, dass es der Safe Space bleibt, der es ist, und achtet darauf, dass die Regeln eingehalten werden. Sie erklärt, dass Beiträge bei einem Regelverstoß gelöscht werden.
Gewalt beginnt in den patriarchalen Strukturen
Tanja Stark unterstreicht, dass im Kollektiv jede Geschichte zählt: „Wir glauben den Menschen, die sich uns anvertrauen, und da ist auch nichts zu wenig und auch nichts zu viel.“ Für sie gibt es keine „kleinen“ Geschichten, denn bereits eine unangemessene, übergriffige Berührung stellt eine Verletzung dar, wenn zuvor keine Zustimmung gegeben wurde. Auch ist dem Kollektiv wichtig, dass jede Geschichte sexualisierter Gewalt gehört wird, auch die von Männern. Ein Lagebild des Bundeskriminalamtes hat ergeben, dass 29 Prozent der Betroffenen von häuslicher Gewalt männlich sind. Es sei wichtig, die Geschichte jeder Person, die von Gewalt betroffen ist, zu hören und anzuerkennen. Besonders marginalisierte Gruppen, wie intergeschlechtliche, trans- und non-binäre Personen sowie Menschen mit Behinderungen und ethnisch marginalisierte Gruppen, sind einem höheren Risiko ausgesetzt, Opfer von Gewalt zu werden.
Dabei sind die Opfer niemals Schuld, sondern eine Gesellschaft, die patriarchal geprägt ist. Eine Gesellschaft, die Jungen lehrt zu glauben, dass sie einen Anspruch auf alles hätten, während Mädchen erklärt wird, sie sollten nicht zu laut, nicht zu frech, nicht so zickig sein. Sondern schön, brav und anständig. Während die Gesellschaft Jungen suggeriert, ihnen stünden keine Gefühle zu, wird Mädchen beigebracht, einfühlsam und empathisch handeln zu müssen. Frauen werden hysterisch genannt, Männer leidenschaftlich. Frauen werden arrogant genannt, Männer selbstbewusst. Wenn Männer etwas tun, ist es strategisch. Wenn Frauen dasselbe tun, ist es berechnend. Ein Mann reagiert, eine Frau reagiert über.
Unsere Gesellschaft baut auf Rollenbildern auf. Rollenbilder, die für alle problematisch sind, aber für Frauen tödlich werden können. Leila Chu stellt in diesem Zusammenhang die grundlegenden Fragen: „Wem gehört eigentlich der Körper einer Frau? Wenn eine Frau draußen rumläuft und zum Beispiel freizügig gekleidet ist, wer darf eigentlich Fotos von ihr machen? Wer darf sie eigentlich anstarren? Und wer hat das Recht, sie zu berühren? Wer darf mit ihrer Angst spielen? Wem gehört ihre Sexualität? Wem gehört eigentlich ihr Recht, sich fortzupflanzen oder über ihren eigenen Körper zu bestimmen?“ Diese Fragen sind der Anfang von allem, was später zu sexualisierten Übergriffen führen kann.
Seine Stimme erheben als Akt des Empowerments
Das Kollektiv setzt sich aktiv gegen den Missstand ein und fordert Konsequenzen für die Täter*innen. Leila Chu erklärt, dass der Moment, in dem ein Opfer seine oder ihre eigene Geschichte teilt, eine Form der Rückgewinnung von Macht sei. Durch das Teilen im Sirenen-Kollektiv holen sich die Betroffenen ihre Kontrolle zurück, indem sie ihr eigenes Narrativ in die Welt tragen und sichtbar machen. Dieser Prozess hilft dabei, die eigene Stärke wiederzufinden und die Isolation zu überwinden. Es kann helfen, sich mitzuteilen. Teil von etwas zu werden. Sich eben nicht zu isolieren, weiter zu schämen oder das Erlebte zu verdrängen. Indem die Beiträge öffentlich sichtbar sind, entsteht ein Gefühl kollektiver Kraft. Es kann helfen zu lesen, welche Erfahrungen andere Menschen gemacht haben. Auch wenn viele Geschichten im Archiv schwer auszuhalten sind, motiviert das Kollektiv auf Instagram dazu, sich auch andere Geschichten durchzulesen und die strukturelle Verankerung des Problems zu verstehen. In diesem Zusammenhang betont Lise van Wersch: „Dieses Archiv ist keine Sammlung an Trauer und Wut und Düsterheit. Das ist sie natürlich auch. Aber eigentlich ist das extrem feministisch empowernd, zu sagen, niemand kann mich hier aufhalten, zu schreiben, wie das wirklich war.“
Neben der Online-Plattform gibt es einen Podcast, der sich mit der strukturellen Ebene befasst. Einmal im Monat erscheint eine Expert*innen-Folge, in der die Gründerinnen Kim und Lise mit Juristinnen, mit Frauenhaus-Betreiberinnen und mit Menschen, die selbst aktivistisch arbeiten, über Feminismus sprechen. Dann gibt es einmal im Monat noch eine sogenannte Hanna-Folge. In dieser kommen Betroffene selbst zu Wort. Hier geht es vor allem um das Danach. Wie geht das Leben weiter? Was hat einem geholfen? Wem hat man sich anvertraut? „Unsere Arbeit ist es nicht, in einem düsteren Strudel zu versinken, sondern die positive Macht eines Kollektives hervorzuheben. Das Leben nach einem Übergriff kann weitergehen“, erklärt Lise.
„Es ist viel zu tun”, sagt Leila und die anderen beiden nicken. Aber gleichzeitig stellen sie fest, dass das Archiv insbesondere in den letzten Monaten viel stärker genutzt wurde. Das siebenköpfige Team leistet diese Arbeit rund um das Kollektiv ehrenamtlich, wozu der Podcast, ein Newsletter, ein Instagram-Account und das Archiv gehören. In diesem Jahr soll ein Verein gegründet werden. Ihr Ziel für 2025 ist es, noch lauter zu werden, auch außerhalb der bisherigen Bubble. Menschen zu ermutigen, ihre Geschichte zu teilen und Verständnis füreinander zu haben.
„Wir sind Vulkane. Wenn wir Frauen unsere Erfahrungen als Wahrheiten teilen, als unsere menschlichen Wahrheiten, dann ändern sich Landkarten. Neue Berge entstehen“, sagte die amerikanische Autorin Ursula Le Guin. Im Sirenen-Kollektiv wird genau diese Kraft sichtbar: Jede Geschichte steht für sich, und doch bilden sie gemeinsam etwas zutiefst feministisch Solidarisches. Es sind über 7.000 Geschichten, die einen Akt des Zusammenschlusses, ein Zeichen gegen die Scham und ein Symbol gegen das Schweigen darstellen. Sie repräsentieren ein Miteinander laut zu sein, ein schrilles Geräusch, das durch die Welt dringt. Laute Sirenen durchbrechen die Stille – ein Ton, der nicht ignoriert werden kann.
Foto: Sara Hoss