Nachdem sie vier Jahre lang aus der Öffentlichkeit abgetaucht war, kehrt Feuchtgebiete-Autorin Charlotte Roche wieder auf die Bildfläche zurück. Ihre Rückkehr schockiert vor allem wegen ihres drastisch veränderten Aussehens. 16 Jahre nach dem Erscheinen des Romans, der wohl den letzten großen Literaturskandal Deutschlands auslöste, stellt sich die Frage: Hat „Feuchtgebiete“ heute noch etwas zu sagen?
Am 12. Oktober meldet sich Charlotte Roche mit einem Selfie und der harmlosen Frage: „Na, wie geht’s euch denn heute?“ auf Instagram zurück. Ihre zuvor langen braunen Haare sind kurz geschnitten und mit gefärbten Strähnen versehen, neben ihren Augen sind die Buchstaben „RIP“ tätowiert. Auch ihr Oberkörper ist mit Tattoos übersät. Ihre Mundwinkel sind zwar zu einem leichten Lächeln nach oben gezogen. Auf ihrem Instagram-Profilbild hingegen blickt sie uns zum Zeitpunkt ihrer Rückkehr tieftraurig mit geröteten Augen an. Inzwischen zeigt ihr Profilbild eine Gabel mit einem fehlenden Zacken, der durch ein winziges Radicchio Blatt ersetzt wurde. Das alles lässt Medien von der Berliner Zeitung bis zum Kölner Express rätseln, was sie wohl gerade durchmacht. Die meisten Fans scheinen einfach froh zu sein, dass sie zurück ist, und hoffen, dass es ihr gut geht. Ein Fan schreibt: „Es tut so gut, dich wiederzusehen“, ein anderer findet ihre Rückkehr „besser als das Stefan-Raab-Comeback“.
Der Feuchtgebiete-Skandal: Ein Rückblick
Charlotte Roche zieht nicht zum ersten Mal Aufmerksamkeit auf sich. Mit ihrem Roman Feuchtgebiete entfachte sie 2008 den wohl größten Literaturskandal der jüngeren deutschen Geschichte. Der Roman handelt von der 18-jährigen Helene Memel, die nach einer missglückten Intimrasur wegen einer Analfissur im Krankenhaus landet. Dort versucht sie, ihre geschiedenen Eltern wieder zusammenzubringen. Der Roman spaltete die Literaturkritik sofort mit seiner freizügigen Darstellung weiblicher Sexualität – vermutlich, weil sie dieses Mal von einer Frau selbst kam.
Schon der erste Satz auf der Rückseite des Buches lautet provokativ: „Hygiene wird bei mir kleingeschrieben.“ Im Buch schildert Charlotte Roche eine Vielzahl unkonventioneller Sexpraktiken, Masturbationsgewohnheiten und absichtlich unhygienisches Verhalten. So reibt Helene Memel etwa ihre Vulva an den Sitzen öffentlicher Toiletten, führt sich Avocadokerne ein, um daraus später Pflanzen zu züchten, oder fantasiert darüber, dass bei einem Lieferservice auf ihre Pizza ejakuliert wird. Roche selbst sagte, dass sie mit dem Buch auf die bestehende Doppelmoral aufmerksam machen wolle. Eine Doppelmoral, die das Privileg, dreckig und unhygienisch sein zu dürfen, den Männern vorbehält.
Im Zentrum der Kritik stand der Vorwurf, dass Charlotte Roches Roman ein kalkulierter Tabubruch ohne literarischen Wert sei. Noch heftiger war der Vorwurf, dass das Buch ein Rückschlag für den Feminismus sei und als schlechtes Vorbild für junge Frauen diene, weil die Darstellung Helene Memels sexueller Freizügigkeit Frauen dazu ermutige, sich zu Sexobjekten degradieren zu lassen. Den Kritiker*innen zufolge verdanke der Roman seinen Erfolg einem prüden Publikum, das immer noch über Wörter wie „Penis“ und „Muschi“ kichere und bei Sexszenen im Fernsehen schnell umschalte.
Feuchtgebiete und der Feminismus
In solcher Kritik schwingt allerdings auch viel Antifeminismus mit. Explizite Schilderungen von Sex bei zeitgenössischen männlichen Autoren wie Michel Houellebecq lösten nicht annähernd ein so großes Medienecho aus wie Feuchtgebiete. Außerdem besteht ein starker kultureller Vorbehalt: Werke, die sich an junge Frauen richten, werden oft als kulturell weniger wertvoll abgetan. Dieser Vorbehalt wurde wahrscheinlich noch durch die Vermarktung des Romans verstärkt: Allein der rosafarbenen Einband und der kreuzstichartigen Schrift machen klar, dass er sich an Frauen richtet.
Nicht nur deshalb sahen die Befürworter*innen von Roche das Buch als Manifest eines neuen Feminismus, der den selbstbestimmten Umgang mit dem eigenen Körper in den Fokus rückt. Feuchtgebiete war gleichzeitig auch ein willkommenes Gegenbild zu einem antiquierten Alice-Schwarzer-Feminismus, der sexuelle Selbstbestimmung in heterosexuellen Beziehungen immer nur als Falle sieht, weil die Frau in einem patriarchalen System nur den Kürzeren ziehen könne. Zeitgleich hat sich der Alice-Schwarzer-Feminismus immer mehr von der Lebensrealität junger Frauen entfernt, deren Leben oft von zwar hochkommerzialisierten und hypersexualisierten, aber dennoch stark und selbstsicher auftretenden Frauen wie Madonna, den Spice Girls oder Destiny’s Child dominiert wurde.
Von Feuchtgebiete zu Ikkimel
In einer Zeit, in der weibliche Popstars wie Ikkimel und Domiziana selbstbewusst ihre Sexualität zur Schau stellen, erscheint es seltsam, dass ein Roman wie Feuchtgebiete jemals jemanden provozieren konnte. Im Gegensatz zu Ikkimel und Domiziana fühlt man sich deshalb bei Feuchtgebiete fast in die Pubertät zurückversetzt. Wenn Charlotte Roche von ihrer „Muschi“ spricht oder ihre Klitoris als „Perlenrüssel“ bezeichnet, spürt man fast eine naiv-kindliche Faszination mit dem eigenen Körper. Feuchtgebiete fühlt sich deshalb an, wie eine erste unbeholfene Erkundungstour auf dem Weg zu einem neuen Verständnis von Feminismus – und ein Stück weit stimmt das sogar. Für die deutsche Medienwelt war es das erste Mal, dass diese neue Art von Feminismus eine so breite Masse erreichte, auch wenn das Endergebnis sehr weiß und wenig politisch war und im Endeffekt auf die schwammige, choice-feministische Botschaft hinauslief, dass du auch im Bett einfach du selbst sein solltest.
Was bleibt von Feuchtgebiete?
Was bedeutet das alles für Feuchtgebiete im Jahr 2024? Ein Roman wie Feuchtgebiete schockiert heute niemanden mehr. Das weiß auch Charlotte Roche. Nachdem ihr dritter Roman, ebenfalls ein Versuch, mit Tabubrüchen zu spielen, scheiterte, reorientierte sie sich. Der Podcast Paardialoge, den sie mit ihrem Ehemann Martin Keß ins Leben rief, war ihr letzter großer Erfolg. Wie in Feuchtgebiete wurde auch hier offen über Tabuthemen gesprochen, zum Beispiel wenn Charlotte über ihr Bedürfnis spricht, mit anderen Männern Sex zu haben. Trotzdem wirken die Gespräche hier eher vertraut als provokant, was vielleicht auch daran liegen mag, dass wir als Gesellschaft heute viel offener sind, was Themen wie Sex oder psychische Gesundheit angeht. Das Ende des Podcasts leitete auch ihren Rückzug aus der Öffentlichkeit ein. Mit einem gemeinsamen Selfie mit Martin und den Worten „Das Publikum war heute wieder wundervoll, und traurig klingt der Schlussakkord in Moll“ verabschiedete sich Roche. Ich schließe mich ihren Fans an und bin vor allem froh, sie zurückzuhaben. Vielleicht können wir uns ja bald auf ein neues Projekt freuen.