Worte konstruieren die Wirklichkeit um uns herum, durch sie machen wir greifbar, was in unserer Realität geschieht. Durch verbale Artikulation werden besonders wenig repräsentierte Perspektiven nach außen getragen. Yasemin Altınay gibt marginalisierten Stimmen mit ihrem unabhängigen Verlag Literarische Diverse seit 2019 Raum, gehört zu werden. Als migrantisierte Verlegerin mit einem Master in Angewandter Literaturwissenschaft bricht Yasemin bestehende Strukturen auf. 

UnAuf: Wenn es um migrantisches Leben in Berlin geht, müssen wir noch viel mehr über junge, kreative Menschen mit neuen Ideen sprechen, die bisher gekannte Strukturen aufmischen – du tust genau das mit deinem Verlag Literarische Diverse. Wie ist dieses Projekt entstanden und wie hat es sich bisher entwickelt?

Yasemin Altınay: Der Verlag entstand aus einer Notwendigkeit heraus, weil ich bestimmte Stimmen in der weiß dominierten Literatur vermisste. Um marginalisierten Autor*innen eine Bühne zu geben, startete ich mit dem ersten Magazin zum Thema Engagement, es folgten: Sprache, Widerstand, Liebe und die aktuelle Ausgabe #5 zum Thema Traum mit unter anderem Lin Hierse und Duygu Ağal. Später habe ich angefangen, zusätzlich Bücher herauszugeben und arbeite gerade an drei weiteren: eines zum Thema Erinnerung an Gastarbeit und Solingen – eine Dankesschrift an Mevlüde Genç. Beide Bücher sind für die deutsche Geschichtsschreibung von enormer Bedeutung, weil eine kollektive Anerkennung und Dokumentation bisher viel zu gering ausfallen. Auch von diesem stechenden Schmerz der fehlenden Erinnerung werden die Bücher handeln. Zum dritten Buch kann ich leider noch nichts sagen.

Yasemin  Altınay /Credit: Masa Yuasa

Deine Arbeit erlebt viel Unterstützung und es gibt eine steigende Nachfrage an Literatur aus der Perspektive marginalisierter Menschen. Wieso ist das wichtig und wie empfindest du diese Veränderung?

Mit ist zum einen die Repräsentation verschiedener Lebenswelten wichtig, die es gibt und die sichtbar sein müssen, damit Menschen sich gesehen und von Literatur abgeholt fühlen. Das erhöht im Umkehrschluss die Motivation, neue Autor*innen zum Schreiben zu motivieren, weil es Vorbilder gibt. Mittlerweile bin ich vorsichtiger damit, zu sagen, dass die Nachfrage steigt. Man müsste erstmal langfristig beobachten, wie sich das entwickelt. Auf struktureller Ebene muss noch viel passieren. Ich wünsche mir daher eine weitere Rethinking Diversity in Publishing Studie, die bereits für den britischen Markt von Dr. Sandra van Lente und Dr. Anamik Saha durchgeführt wurde. In Deutschland fehlen wichtige Erkenntnisse, mit denen man nachweislich vorankommen könnte.

Viele Beschäftigte in der Literaturbranche geben an, dass die Strukturen des Verlagswesens immer noch sehr weiß-dominiert sind. Wieso ist es wichtig für Literaturkonsument*innen, bei kleinen Verlagen einzukaufen?

Kleine unabhängige Verlage können in der Regel nicht von ihrer Arbeit leben. Laut einer aktuellen Studie lebt nur jeder fünfte kleine Verlag von der eigenen Arbeit, der Rest finanziert sich über eine Teil- oder Vollzeitstelle in einem anderen Unternehmen. Gerade in jüngster Zeit konnte man beobachten, wie viele kleine Verlage und Indie Magazine schließen mussten. Oft sind es Verlage, die ein feministisches, antifaschistisches Sortiment haben. Aber nicht nur das: Verlage erleben als Folge der Pandemie einen Einbruch im Einkommen. Diese traurige Tendenz sehe ich auch bei Literarische Diverse. Deshalb ist es immens wichtig, direkt bei Independents zu kaufen, bevor sie aufgrund fehlender Nachfrage aufhören werden.

Welche Rolle und Verantwortung siehst du für dich als Verlegerin?

Ich bin gerne Verlegerin, sonst würde ich nicht bereits seit 12 Jahren in der Branche arbeiten. Ich liebe es, den ganzen Prozess von Manuskript bis zur Veröffentlichung zu organisieren und mitzuerleben. Mittlerweile sind bei Literarische Diverse fast 150 Autor*innen publiziert worden. Das heißt, mit jeder Ausgabe wächst auch die Verantwortung, die ich aber gerne annehme. Teilweise ist es aber auch sehr herausfordernd, als unabhängige Woman of Color in der Branche zu existieren und gegen Strukturen anzukämpfen. Das möchte ich nicht unerwähnt lassen.

Credit: Marie Konrad

Auf deiner Releaseparty für die fünfte Ausgabe deines Magazins zum Thema „Traum“ sind Menschen aus Berlin zusammengekommen um dich, die Autor*innen und eure Arbeit wertzuschätzen und zu unterstützen. Auf persönlicher Ebene: Welche Bedeutung haben migrantische Communities als Räume des Austausches in Berlin für dich?

Das Schaffen eigener Räume finde ich sehr empowernd. Unsere Release-Party gemeinsam zu feiern war wirklich herzerwärmend und hallt immer noch nach. Migrantisches Leben bedeutet für mich, nicht allein zu sein, mich in Anwesenheit bestimmter Menschen sicherer zu fühlen, in Worten anderer Halt zu finden. Die Kraft der Literatur spielt für mich also auch im städtischen Kontext eine große Rolle, weil man leichter zueinander finden kann. Ich freue mich daher schon auf die nächste Feier!

Was wünschst du dir speziell für migrantisches, kulturelles Leben in Berlin für die Zukunft? Welche Rolle spielt Literarische Diverse dabei?

Ich wünsche mir an erster Stelle langfristig mehr strukturelle Fördergelder für migrantisches, kulturelles Leben – speziell auch für Verlage, wie Literarische Diverse, damit dieser ohne finanzielle Sorgen existieren kann.


Illustration: Céline Bengi Bolkan