Überforderung angesichts der Newsletter, die sich ungelesen im Postfach stapeln, Ärger, wenn ein Artikel mal wieder aus mehr Werbung als Text zu bestehen scheint – der Überfluss an Informationen überfordert die Konsument*innen. Dass im Hintergrund ein ökonomisches System steht, gerät dabei leicht in Vergessenheit.

Ein letzter prüfender Blick auf den Bildschirm, dann legt Paula ihr Handy mit dem Display nach unten neben sich auf den Tisch. „Man kann nicht bestimmen, wann man die bekommt“, beklagt die 23-jährige Jurastudentin und meint damit die Pushnachrichten der diversen Medien, die sie abonniert hat. Mehr als die zahlreichen Kurzmeldungen zwischendurch schnell zu überfliegen, gelingt ihr meist nicht. „Durch dieses Bombardement steigt die Hemmschwelle, wirklich irgendwo draufzuklicken“, sagt sie. Paula wäre gerne besser informiert, schließlich könne heutzutage theoretisch jede*r in allem Expert*in sein. Häufig fehle ihr aber einfach die Energie, Neues aufzunehmen: „Es wirkt immer alles so dringend und dann kommt schon das Nächste. Das hat sowas von Abarbeiten-Müssen.“

Der wissenschaftlichen Mitarbeiterin an der Professur für digitalen Journalismus der Uni Hamburg, Laura Laugwitz, zufolge ist Paula mit diesem Gefühl nicht alleine. „Es gibt einen Druck, sich jederzeit und mit allem beschäftigen zu müssen. Dabei ist es einfach nicht möglich, alle Nachrichten wahrzunehmen“, stellt Laugwitz fest.

Nachrichtenkonsum hat seinen Preis

Macht das Internet durch seine Informationsflut also die Konsument*innen kaputt? Laut Laugwitz muss hier differenziert werden. Denn der ursprüngliche Grund sei eher die Tatsache, dass im Kapitalismus grundsätzlich im Überfluss hergestellt werde. So produzieren und konsumieren wir auch im Journalismus viel mehr, als wir müssten. Überforderung sei daher schon zu Zeiten der gedruckten Medien ein bekanntes Phänomen gewesen: „Auch damals hat man größtenteils nur die Überschriften gelesen und vielleicht ein oder zwei Artikel ganz.“

Wohl aber bringt das Internet auch neue, im Zeitalter von Print noch unbekannte, Schwierigkeiten hervor. Viel diskutiert ist etwa das „Doomscrolling” – ein wortwörtliches Sich-ins-Verderben-Scrollen durch den schier endlosen Konsum negativer Nachrichten. Um dem zu entgehen, rät die Expertin, sich klare zeitliche Limits zu setzen. Denn unsere emotionalen Kapazitäten seien de facto begrenzt. Die emotionale Erschöpfung nach dem ewigen Scrollen ist nicht der einzige Preis, den Nutzer*innen zahlen. Erscheinungen wie Doomscrolling entstehen nicht zufällig. Digitale Unternehmen haben ein Interesse daran, ihre User*innen möglichst lange auf den Websites zu halten und nutzen dafür gezielt psychologische Strukturen aus. „Teilweise funktioniert das wie bei einem Spielautomaten, wenn du mehrmals runterziehen musst, damit sich die Seite aktualisiert“, erklärt Laugwitz.

Nicht nur diesem sogenannten ‚Pull-to-Refresh‘-Mechanismus liegt ein finanzielles Interesse zugrunde. Online-Plattformen verdienen ihr Geld größtenteils mit Werbung – je mehr die User*innen davon sehen, desto besser. Und es kommt noch ein Faktor hinzu, den viele gerne ausblenden oder als unwichtig erachten. „Auch du bist Produkt, wenn du nicht für den Journalismus bezahlst“, warnt die Expertin für digitalen Journalismus, Laugwitz. Bezahlt wird also trotzdem, nur in einer anderen Währung: mit den eigenen Verhaltensdaten.

„Journalismus, der unabhängig von ökonomischen Strukturen funktioniert, ist nicht realistisch“

Dass Inhalt und Werbung im Zuge der Digitalisierung teilweise bis zur Ununterscheidbarkeit verschmelzen, sieht Laugwitz als problematisch an. Die Frage nach der Finanzierung unabhängiger Informationen sei allerdings auch schon vor dem Internet gestellt worden. „Das Internet ist ja eigentlich nur eine Erweiterung unserer Gesellschaft. Das heißt, dass sich die gesellschaftlichen Strukturen, die bereits vorliegen, auch im Internet wiederfinden“, ordnet die Expertin ein. So müsse Journalismus, egal ob digital oder analog, der kapitalistischen Marktlogik folgen, um finanziell zu überleben.

Auch Phänomene wie Überforderung seien innerhalb dieses gesamtgesellschaftlichen Kontextes angeordnet. Sie entstünden nicht allein durch die Schnelllebigkeit des Internets, sondern vor allem vor dem Hintergrund eines ökonomischen Systems. Eine alleinige Kritik an der Digitalisierung greife daher zu kurz. Zudem müsse beachtet werden, dass weltweit nur ungefähr die Hälfte der Menschheit überhaupt Zugang zu digitalen Inhalten habe und auch innerhalb Deutschlands die Zugriffsmöglichkeiten sehr ungleich seien. Überforderung sei daher ein Problem einer sehr privilegierten Gruppe. Und auch wenn Paula beklagt, dass sie fast jeden Artikel interessant finde, repräsentiere sie damit nur einen Teil der Bevölkerung.

An diesem Punkt sollten Medienmacher*innen Laugwitz zufolge stärker in die Verantwortung gezogen werden. „Von Anfang an sollten diejenigen, die recherchieren und sprechen, verschiedene Lebensrealitäten abbilden“, betont Laugwitz. Es reiche nicht aus, Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven lediglich zu interviewen, um Repräsentation zu schaffen.

Laugwitz betont, dass es Machtmechanismen sind, die das Fundament des Kapitalismus bilden: Rassismus, Sexismus und diverse anderer Marginalisierungen seien systembedingt. Journalismus agiert in den Grenzen dieses Systems und ist daher mit all seinen Schwierigkeiten konfrontiert. „Ein Journalismus, der unabhängig von aktuellen ökonomischen Strukturen funktioniert, ist nicht wirklich realistisch“, konstatiert die Expertin. Was können wir also tun, um mehr Gerechtigkeit herzustellen? Laugwitz sagt: „Wenn wir es ganz groß anlegen, dann wäre die Abschaffung des Kapitalismus natürlich eine Lösung, die wir brauchen, um eine gerechte Welt zu schaffen.“

Für Paula, die irgendwo zwischen Überforderung und emotionaler Abstumpfung steht, ist das womöglich kein akut hilfreicher Ratschlag. Jedoch könne sie im Kleinen anfangen und versuchen, vom reinen Nachrichtenkonsum ins aktive Handeln außerhalb des Internets zu kommen, so Laugwitz. Dies sei ein guter Weg, die Masse an Inhalten zu kanalisieren. Eine weitere Strategie hat Paula für sich selbst gefunden. Sie versucht inzwischen, Pushnachrichten zu ignorieren und lieber gezielt einzelne Artikel zu lesen – als Schutz vor dem „journalistischen Burnout“, wie sie es nennt.


Illustration: Lotte Marie Koterewa

Dieser Text ist in der UnAufgefordert #261 zum Thema „www.journalistische-verantwortung.de“ im August 2022 erschienen.