Knapp 700.000 Werke der sogenannten „Kunst auf Papier“ beheimatet das Kupferstichkabinett in Berlin Tiergarten, so viele, dass die gesamten Ausstellungsflächen der Museumsinsel nicht ausreichen würden, um diese zu präsentieren. Über 500.000 dieser Kunstwerke sind Drucke, bei dem Rest handelt es sich zum Beispiel um Zeichnungen und Ölskizzen. Damit ist die Sammlung eine der vier größten ihrer Art weltweit. Doch wie bringt man eine solche Fülle an Kunst unter? Und wie macht man diese oft empfindlichen Werke erfahrbar?

Studiensaal © Staatliche Museen zu Berlin

Um diese Fragen zu klären, treffen wir uns mit Dr. Dagmar Korbacher, der Direktorin des Kupferstichkabinetts, die eine unserer Fragen schon dadurch beantwortet, dass sie uns gleich zu Beginn in den Studiensaal führt. Denn hier wird die Kunst tatsächlich so erfahrbar, wie es sonst selten in Museen der Fall ist. Das Prozedere des Studiensaals bezeichnet Dr. Korbacher selbst als „Wunschkonzert“. Hier kann jeder Besucher nach Vorlage seines Personalausweises Kunstwerke seiner Wahl bestellen und ihnen im Studiensaal von Angesicht zu Angesicht begegnen, ganz ohne Rahmen und Glas.

Da die Stücke der Sammlung empfindlich auf Licht und Raumklima reagieren, können sie nicht dauerhaft ausgestellt werden. Trotzdem sollte ein Museum laut Dr. Korbacher nicht nur der Wissenschaft dienen, sondern auch „ein Ort der Freude“ sein. Die Zugänglichkeit, die diese Einstellung ermöglicht, wird von bis zu 4.000 Besuchern jährlich dankend angenommen.

Dass eine Sammlung dieser Größe zu Platzproblemen führt, ist kaum überraschend. Zumal ständig neue Kunst hinzukommt, darunter vor allem zeitgenössische Werke. Die Mittel hierzu liefern laut Dr. Korbacher meist die Lotto Stiftung, die Schering Stiftung und der Freundeskreis des Hauses. Einen Lichtblick bezüglich der zukünftigen Unterbringung bietet das Museum des 20. Jahrhunderts, das gerade nebenan gebaut wird und sich in einigen Jahren wie das Kupferstichkabinett in das Ensemble des Kulturforums einfügen soll. Das gesamte Areal wurde Ende der 1950er-Jahre als Pendant zur Museumsinsel im Osten der geteilten Stadt geplant.

Neben der Anschaffung neuer Kunst kümmern sich die Kuratoren des Museums auch um die Provenienzforschung, die den teilweise dunklen Geschichten der Werke nachspürt. So können unter anderem die Nachkommen jüdischer Kunstbesitzer, die ihre Bilder zur Zeit des Nationalsozialismus unter Wert verkaufen mussten, entschädigt werden. Gelegentlich gelingt den Kuratoren auch der Rückerwerb eines Werks, das dem Museum im Krieg entwendet wurde. Als Beispiel nennt Dr. Korbacher uns den Fall zweier zusammengehöriger Kunstwerke von Adolph Menzel. Die Bilder zeigen eine Dame und einen Herrn im selben Zugabteil und wurden beide 1941 wegen der Bombardierung Berlins ausgelagert. Zurück in die Sammlung schaffte es nach dem Krieg allerdings nur jenes Bild, das den Herrn zeigt. Erst 74 Jahre später konnte auch die Dame zurückgeholt werden, sodass das Paar nun wieder unter einem Dach vereint ist.

Eine Zeichnung Michelangelos im Passepartout.

Nach der ersten Hälfte unseres Gesprächs führt Dr. Korbacher uns aus dem öffentlichen Studiensaal in die exklusiveren Räume des Archivs. Hier reihen sich Schränke voller Boxen und Ordner aneinander. Prompt nimmt die Direktorin eine der Boxen von ihrem angestammten Platz und legt sie auf einen Tisch. Mit irritierender Selbstverständlichkeit öffnet sie die Box und präsentiert uns eine Zeichnung von Michelangelo, die beinahe ein halbes Jahrtausend überdauert hat. Das Kunstwerk befindet sich in einem speziellen Papprahmen, einem Passepartout, in das es fest eingeklebt ist. Darunter stapeln sich fünf bis sechs weitere Werke ähnlichen Formats. So werden die meisten der Zeichnungen und Drucke des Museums gelagert, nur die besonders sperrigen Stücke befinden sich im Keller.

Lagerraum neben dem Studiensaal.

Dr. Korbacher betont mehrmals, dass es lange dauert, bis man weiß, wo die einzelnen Werke untergebracht sind. Wenn man also ein interessantes Bild findet, müsse man sich sofort den Standort notieren. Tue man das nicht, sei dies, „als würde man einen Fisch fangen, ihn dann zurück in den Ozean werfen und hoffen, ihn später ein weiteres Mal aus dem Wasser zu ziehen.“ Auch deshalb bemüht sich das Kupferstichkabinett um die Digitalisierung der Kunst. Doch momentan ist erst ein Zehntel der Werke digital erfasst und nur 15.000 davon sind online mit einer fotografischen Abbildung abrufbar.

Diplom-Restaurator Georg Dietz, der unser zweiter Gesprächspartner an diesem Tag ist, betont jedoch, dass der Digitalisierungs-Trip in Bezug auf die Kunst mit Vorsicht zu genießen sei. Er ist Leiter der Abteilung Konservierung/Restaurierung und führt uns in eines der Arbeitszimmer seines Bereichs. Hier bringt er uns zum Tisch einer Kollegin, die gerade dabei ist, eines der Werke aus seinem Passepartout zu lösen. Direkt am Objekt zeigt er uns anschaulich, dass auch Eigenschaften wie die Papierqualität wichtig sind, um Kunst wirklich zu erfahren. „Viele meinen, sie hätten das Kunstwerk begriffen, wenn sie es zu Hause vom Sofa aus auf ihrem Smartphone oder Tablet gesehen haben“, erklärt Dietz. Dem sei aber nicht so, besonders schwache oder lediglich eingedrückte Linien könne man zum Beispiel auf einem Foto überhaupt nicht sehen. Diese Feinheiten gelte es, für die Besucher des Museums erfahrbar zu machen.

Arbeitsplatz einer Restauratorin.

Die Restauratorin, der wir bei ihrer akribischen Arbeit zuschauen, fügt hinzu, dass auch die Rückseite eines Bildes, die häufig durch die Passepartouts verborgen bleibt, von großer Bedeutung sein könne. Sie führt das Beispiel der Zeichnung eines Knaben von Friedrich Overbeck an. Lange war nicht bekannt gewesen, dass sich auf der Rückseite ein kleines Geheimnis verbarg. Dort ist nämlich eine Skizze des Schiefen Turms von Pisa zu sehen, die der Künstler auf derselben Reise angefertigt hatte wie das Bild des Knaben.

Diesen „Glückserlebnissen“, so nennt Dietz es, wenn man als Restaurator einem Künstler „auf die Schliche kommt“, stehen allerdings viele Schreckmomente gegenüber. Das Papier vieler Kunstwerke habe sich über die Jahre hinweg farblich verändert. Das liege vor allem an übermäßigem Lichteinfall während verschiedener Ausstellungen und sei geradezu unverantwortlich. „Schließlich sind wir nicht die einzige Generation, die diese Kunstwerke erleben will“, sagt Dietz und weist uns daraufhin, dass der Beruf des Restaurators sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt habe. Es gehe nun nicht mehr um die reine Reparatur von Schäden, sondern auch um deren Prävention. Die Ehrfurcht vor den Werken sei auf jeden Fall gewachsen.

Aus dem Arbeitszimmer führt Dietz uns mehrere Stockwerke nach unten. Da das Museum einen Ruhetag hat, sind die Gänge gespenstisch leer. Der Restaurator erklärt uns jedoch, dass zu Stoßzeiten so viele Menschen im Gebäude seien, dass die entstehenden Vibrationen feinere Mikroskopierarbeiten unmöglich machten.

Restauratorin Luise Maul bei der Arbeit.

Nach unzähligen Stufen finden wir uns schließlich in einem labyrinthischen Keller wieder, der das Kupferstichkabinett unterirdisch mit der Gemäldegalerie und dem Kunstgewerbemuseum verbindet. Während wir längst die Orientierung verloren haben, führt Dietz uns zu seiner Kollegin Luise Maul. Frau Maul befindet sich dieser Tage an einem der sichersten Arbeitsplätze Berlins. Der Raum, in dem sie gerade zugange ist, wurde nämlich zur Zeit des Kalten Krieges als Atomschutzbunker angelegt. Hier lagern heute neben einigen Werken des Kupferstichkabinetts vor allem Bilder der Gemäldegalerie. Bereitwillig und mit einiger Begeisterung für ihr Handwerk zeigt die Restauratorin uns, woran sie gerade arbeitet. Sie hat die Aufgabe, eine knapp 500 Jahre alte Venedigkarte von Jacopo de‘ Barbari, die enorme Ausmaße hat und aus mehreren Teilen besteht, für eine Rahmung passgenau zusammenzufügen.

Auf dem Weg zurück an die Oberfläche erzählt Dietz uns, dass schon mehrere seiner Kollegen abends versehentlich in dem ehemaligen Bunker eingeschlossen worden seien. Und da es dort natürlich keinen Handyempfang gebe, diene ein Festnetzanschluss den Gefangenen als letzte Rettung. Nach einer solchen Anekdote sind wir geradezu erleichtert, als wir wieder ins Tageslicht treten.

Kleinere Lagerboxen.

Am Ende unserer Führung steht die Erkenntnis, dass im Kupferstichkabinett tatsächlich versucht wird, die Kunst erfahrbar zu machen. Gleichzeitig legt man großen Wert auf die Erhaltung und fachgerechte Lagerung der Werke. Lediglich die Unterbringung der stetig wachsenden Sammlung wird allmählich zum Problem. Es bleibt also zu hoffen, dass das neue Museum des Kulturforums hier genügend Abhilfe schaffen kann.

 

In der Reihe “Unbefugter Zutritt” schauen unsere Autoren Luisa Jabs und Nils Neuhaus hinter die Kulissen der Berliner Museen. In dieser Reihe außerdem erschienen: Die Innereien der Charité.

 

Fotos: Nils Neuhaus