Unsere Uni ist wie ihre Heimatstadt: groß und anonym. Ein wunderbarer Ort, um in der Masse unterzutauchen. Wenn der Stress zu viel wird, kann man in den obersten Etagen am Fenster auf die Stadt starren oder bis Mitternacht in der Bibliothek umherstreifen. Niemandem wird die Abwesenheit des Einzelnen in der Vorlesung auffallen. Auch gibt es Mittagspausen, in denen fremde Personen am selben Tisch schweigend ihr Essen spachteln, mit Kopfhörern auf den Ohren und tief über den Teller gebeugt. Die Tischnachbarn verschwimmen zu einer monotonen Masse, der Studierende muss ihnen gegenüber keine vorgegebene soziale Rolle einnehmen und kann sich seinen Gedanken widmen. Was vielen Erstsemestern zunächst wie Arroganz erscheint, entpuppt sich als Schutzschild des Verstandes, das alle Unterschiede nivelliert und dazu führt jedem noch so starken Reiz schulterzuckend zu trotzen.
Auf dem Weg zum Grimm-Zentrum bekommt dieser Filter Risse. Dann werden in ebendieser gleichartigen Menge, die mir entgegenströmt, Unterschiede erkennbar:
Denn auch wenn der modische Studierende von heute zerrissene Jeans und einen Pulli vom Flohmarkt trägt, bleibt seine Haltung aufrecht. Meist trägt er nur einen Laptop unter dem Arm. Seine Augen sind nicht auf der ständigen Suche nach Pfandflaschen. Und auch wenn der Studierende von heute sich nichts anmerken lässt, dem Obdachlosen gekonnt ausweicht, seinen Blick im richtigen Moment abwendet und versucht die Situation mit einer „Dit-is-halt-Berlin“- Attitüde zu entgegnen, frage ich mich, ob sich hinter diesem Großstadt-Habitus nicht eigentlich eine große Ignoranz versteckt.
Als ich mir überlege, etwas über die obdachlosen Menschen zu schreiben, die mit uns auf dem Campus leben, denen man in ruhigen Stunden auf den Toiletten beim Waschen begegnet, oder mal eine Pfandflasche hinstellt, hatte ich mir vorgestellt, auf eine strenge Hausordnung oder wütendes Hauspersonal zu stoßen. Aber es klingt alles unspektakulär: „Ich kenne die mittlerweile. Die meisten von denen sind Polen, die machen nichts“, erklärt ein Sicherheitsmann. Ich hake beim Bibliothekspersonal nach, ob es eine gesonderte Anordnung zum Umgang mit Obdachlosen gebe. „Ganz normale Hausordnung. So lange die nichts trinken oder laut sind, dürfen die bleiben.“ Beim Versuch, diese Aussagen zu überprüfen, scheitere ich: Die zwei Obdachlosen, denen ich später begegne, sprechen tatsächlich Polnisch. Der Dritte schläft. Ich husche an seiner Schlafstätte vorbei und erwische mich selbst dabei, wie ich demonstrativ zur anderen Straßenseite starre.
Aber was ist die Alternative zur Ignoranz? Überschwängliche Aufmerksamkeit könnte hier ebenfalls fehl am Platz sein. Wer in unserer anonymen Welt plötzlich die Rolle des helfenden Wohltäters annimmt, zwingt sein Gegenüber in die Rolle des abhängigen Empfängers. Das raubt die Freiheit, in der Masse unterzutauchen.
Aber wir können Menschen auf Augenhöhe begegnen, sie grüßen und uns erkundigen wie es ihnen geht. Wir sollten höflich nach dem Wohlbefinden fragen, wenn ein flüchtiger Bekannter nur selten und müde zum Seminar kommt und wir sollten fragen, ob wir den Kältebus anrufen sollen, wenn eine Person bei Minusgraden auf dem Asphalt übernachtet. Nach einiger Zeit werden wir vielleicht eine persönliche Geschichte hören. Dann sollten wir ein offenes Ohr haben, aber wenn dies nicht passiert, ist das auch in Ordnung. Viele Projekte in Berlin funktionieren nach dem Prinzip der Freiwilligkeit und Anonymität. Auch wir können in unseren Toiletten Hygieneartikel auslegen, Essen sammeln oder wie die Hamburger einen Gabenzaun aufbauen. Wir können eine Kleiderkammer einrichten und wenn jemand bettelt, kann man auch einfach ein paar Münzen spenden. Denn an einer Uni, an der täglich darüber debattiert wird, wie man die Welt ein bisschen besser macht und Studierende sich für die großen Themen unserer Zeit engagieren, dürfen wir nicht blind gegenüber den Missständen werden, die für unsere Augen schon alltäglich geworden sind. [/fusion_text]