Der Jugendliche Stefan (Jonas Nay) sitzt wegen einer Schlägerei im Warteraum einer Polizeiwache. Neben ihm ein Mädchen mit Sidecut und Piercings. Sie erkennt ihn wieder, Stefan ging mit ihr zur Schule. Sie fragt ihn: “Bist du links oder rechts?” Stefan antwortet zunächst nicht, dann: “Ich bin normal.” – “Also bist du rechts.” Sichtlich erregt verteidigt sich Stefan und der Warteraum verstummt, als er jetzt fast schon schreit: “Darf man hier denn nicht mal mehr normal sein?”

In “Wir sind jung. Wir sind stark.” unter der Regie von Burhan Qurbani geht es um die gewalttätigen Ausschreitungen im Sommer 1992 im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen, die sich gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim von vietnamesischen Vertragsarbeitern richteten. Damals mischten sich offen ausländerfeindliche Ressentiments von Bürgern und Anwohnern mit rechtem Gedankengut von Neonazis zu einer explosiven Mischung aus Angst, Hass und Brutalität. Während der rechte Mob nahezu ungehindert Wohnungen in Brand setzen, Steine schmeißen und Parolen brüllen konnte, standen zahlreiche Schaulustige applaudierend daneben. Bis heute ist ungeklärt, warum sich die Polizei inmitten der Proteste teilweise komplett zurückzog.

Basierend auf diesen Ereignissen erzählt Burhan Qurbani die Geschichten dreier fiktiver Charaktere. Da ist zum einen der junge Stefan (Jonas Nay), dessen rechter Freundeskreis aus Draufgängern, Verlierern und Außenseitern besteht, sein Vater (Devid Striesow), ein hoher Lokalpolitiker der Stadt, und zuletzt Lien (Le Hong Tran), eine vietnamesische Vertragsarbeiterin.

Das Leben hat Stefan im Stich gelassen: Seine Mutter gibt es nicht mehr und zu seinem viel beschäftigten Vater hat er kaum noch eine Bindung. Schließlich begeht auch noch ein Freund Selbstmord. Stefan redet nicht viel und ist schüchtern – die besten Voraussetzungen, um Teil einer Gruppe von Neonazis zu werden. So wird sein Frust zu Wut, seine Trauer zu Rache. Am Ende ist es Stefan, der den ersten Molotowcocktail auf eine vietnamesische Wohnung wirft.

Stefans Vater, der für das politische Management der Krise verantwortlich ist, agiert alles andere als resolut, als die Proteste gegen das Asylbewerberheim immer gewaltvollere Formen annehmen. Ein ranghoher Politiker rät ihm, nichts zu unternehmen und untermauert seinen Rat mit einer Aussicht auf einen hohen politischen Posten. Auf der anderen Seite verlangt der Polizeipräsident politisches Eingreifen – zwiegespalten und zusätzlich vom schlechten Verhältnis zum Sohn geplagt, versinkt Stefans Vater in der Untätigkeit. Während die Ausschreitungen auf ihren Höhepunkt zulaufen, hört er klassische Musik mit großen, schwarzen Kopfhörern.

Lien gehört zu einer von zahlreichen vietnamesischen Familien, die in einem Wohnheim neben dem Asylbewerberheim untergebracht sind. Liens Bruder hat Angst vor den Protesten und möchte nach Vietnam zurückkehren, während die hoffnungsvolle Vietnamesin glaubt, die Wut richte sich nur gegen Sinti und Roma, nicht gegen sie. Sie kümmert sich um eine Arbeitserlaubnis, um in Deutschland bleiben zu können. Ihr Optimismus weicht allerdings der bitteren Realität, als sich der Mob vor ihrem Haus formiert und “Ausländer raus!” skandiert.

“Wir sind jung. Wir sind stark” ist keine bloße Dokumentation der Ereignisse von damals. Qurbani zeichnet beispielhaft nach, was so oder so ähnlich jederzeit wieder passieren könnte. Denn die Motive, um die es geht, sind allzu menschlich: Angst, Frust und Wut, dazu Perspektivlosigkeit, Depression, Stolz. Die ostdeutsche Tristesse aus Platte und Beton ist nur die Bühne, auf der sich der gefährlich subtile Wandel von “ganz normalen” Bürgern zu selbsternannten “Patrioten” vollzieht, die vor der Kamera mit erhobenem rechten Arm posieren.

Dabei gelingt es Qurbani, selbst Sohn einer afghanischen Flüchtlingsfamilie, ein äußerst vielschichtiges und differenziertes Bild zu schaffen. Frei von plakativen Einteilungen in Gut und Schlecht erzählt er Geschichten aus dem deutschen Alltag, in denen das eine zu dem anderen führt, ohne dabei ins Unwahrscheinliche zu rutschen. Das Ergebnis sind verstörende Einsichten in längst vergessen geglaubte Befindlichkeiten, die aber zu Tage treten, wenn sie gerufen werden. Befindlichkeiten, die, wenn sie einmal da sind, jegliche Zivilcourage, demokratische Werte und die ganz normalen Regeln des sozialen Miteinanders über den Haufen werfen.

Eine besondere Stärke des Films ist die dramaturgische Aufbereitung der Ereignisse. Die einzelnen Handlungsstränge kreuzen sich immer wieder, bis sie schließlich gegen Ende in der großen Eskalation vom 24. August 1992 zusammengeführt werden. Diese Hinführung zu einem Finale erzeugt durchaus Spannung. Sie gibt den Ausschreitungen aber vor allem ihre historische Tiefe, mit der sie überhaupt erst erklärbar werden. Dabei verkörpern die Schauspieler ihre Rollen glaubhaft und stimmig, besonders Jonas Nay kann als der facettenreiche Stefan überzeugen.

“Wir sind jung. Wir sind stark.” kommt gerade zum richtigen Zeitpunkt in die Kinos. Er ist ein Aufruf an die Menschen, sich nicht von der Masseneuphorie verführen und instrumentalisieren zu lassen, sondern stattdessen Zivilcourage zu zeigen, auch und vor allem wenn man damit zur Minderheit gehört. Zugleich ist er ein Aufruf an Politik und Polizei, rassistische Exzesse ernstzunehmen und zu verurteilen. Rostock Lichtenhagen soll sich nicht wiederholen. Das gilt insbesondere für die tausenden “ganz normalen” Bürger, die in Dresden gegen eine vermeintliche “Islamisierung des Abendlandes” demonstrieren.

 

Wir sind jung. Wir sind stark.

Kinostart 22.01.2015.

Länge: 128 Minuten

Regie: Burhan Qurbani.

Mit: Jonas Nay, Devid Striesow, Le Hong Tran, David Schütter, Joel Basman uvm.