Illustration: Milena Bassen

 

 

0077 ist keine mir bekannte Telefonvorwahl. 0077 ist auch kein Doppelnullagentenstatus. 0077 steht auf einem Zettel, den mir ein gelber Automat piepend gegeben hat, als ich ihn danach gefragt habe. 0077 ist jetzt meine Lizenz zum Warten.

Die wenigen gelben Klappstühle hier sind fast ausnahmslos von alten Menschen besetzt, sie quietschen bei jeder Gelegenheit, die sich ihnen bietet und wenn mal jemand aufsteht, scheint der Klappstuhl, von seiner Last befreit, kurz zu seufzen, bis sich die dicke 0038 erbarmungslos setzt.

Die Nummern 0039 bis 0081 stehen nun fein verteilt im quietschgelben, maßlos überfüllten, sauerstoffarmen Raum, den Einheimische Posta nennen. Ich zwänge mich neben eine ältere Dame und schaue so abweisend wie ich nur kann.

Denn in einer italienischen Postfiliale, da bin ich sicher, herrschen Gesetze, von denen ich nichts weiß. Vielleicht besagt eines dieser römischen Post-Gesetze, von denen ich noch nichts weiß, dass man in einer vorgegebenen Wartezeit von soundso vielen Minuten mindestens soundso viele Gespräche mit anderen beginnen muss.

Brrring! Die 0037 wird aufgerufen, ich schaue, wie viele hier, instinktiv auf meinen Zettel und werde, wie viele hier, instinktiv ungeduldiger. Nur die Oma neben mir lächelt und fragt, welche Nummer ich denn sei. Es ist ungefähr 09:00 Uhr, ich habe nicht gefrühstückt, bin unwillig zu sprechen und zeige ihr nur meinen vor Nervosität zerknitterten Zettel. Die gesetzestreue Oma ist aber auf Kommunikation aus und fragt mich was ich hier überhaupt möchte. Zwei Stück Pizza zum mitnehmen, denke ich, die tunke ich dann zu Hause in meinen Cappuccino, das möchte ich gerne. Die Oma hat verstanden, ein älterer Herr nimmt ihren Platz ein.

Man muss wissen, dass in italienischen Postfilialen nicht nur Versanddienstleistungen, sondern auch Versicherungs- und Bankdienstleistungen angeboten werden. Die meisten Menschen hier sind alt und wollen ihr Geld, ich bin jung und will meine Ruhe. Nummer 0041 will einen Kugelschreiber. Aber so was haben sie hier nicht.

Der Signore neben mir scheint jedenfalls verstanden zu haben, dass mit mir nicht zu reden ist und spricht einfach zu sich selbst, mehr noch, er flucht. Laut. Ein Verhaltenskodex in italienischen Postfilialen könnte auch vorsehen, dass man so laut sprechen soll, wie es nur geht. Jeder soll hören dürfen, wie man richtige Pasta all’amatriciana macht, welche Farbe der Himmel heute hat und welchem Enkel man am liebsten wie viel Geld schenkt. Und jeder soll hören müssen, wer hier wen verflucht. Die Frau ihren Mann, die Oma ihren Sohn und der Opa neben mir die ganze Welt.

Brrring 0047. Die stilvolle 0047 stolziert zu Schalter Numero uno. Die Männer im Raum raunen. Von sieben Schaltern sind nur drei besetzt, ein Mitarbeiter telefoniert, allerdings privat und der Mann von Schalter 2 ist dem nicht anwesenden Direktor einen Caffè holen gegangen. Vor zwanzig Minuten. Jetzt kommt er fröhlich zur Tür hinein, ohne Caffè. Einige sehen und verstehen, andere schweigen und leiden.

Der Opi neben mir hat nicht die Absicht zu schweigen, die Kraft eines saftigen Fluchs längst erkannt und auch den Mut, einen solchen auszusprechen. Da wird keine in unseren Breiten vorherrschenden Formel, wie „Blödmann“oder im Ernstfall „Sackgesicht“ genuschelt. Nein. In Italien werden die Mutter, die Schwester, die ganze Familie und alle Toten obendrauf mit einer lockeren Leichtigkeit verflucht, die man sonst nur aus einem gelungenen Pizzateig kennt.

Der Opi richtet seinen Fluch nicht explizit an den falschen Kaffeekurier, aber alle wissen, dass er gemeint ist. Auch er weiß es und arbeitet nur verflucht langsam weiter. Römische Postfilialen gehören in Reiseführer!

Brrring 0068. Die italienische Post ist in etwa so zuverlässig wie ein Fiat Punto Baujahr 1995 und müsste inzwischen über eine große Postkartensammlung von mir verfügen. Außerdem, so scheint es mir, herrschen in einer italienischen Post ganz eigene Gesetze, von denen ich nichts weiß, denn in diesem quietschgelben Raum spielen sich geradezu irreale Szenen ab. 0077 ist meine Eintrittskarte für das absurde Theater.

Brrring 0077. „Buongiorno.“ „Keine Briefmarken?“ „Arrivederci!“