Der Lernraum in der JVA Tegel | © JVA Tegel

„Haben Sie Angst, wenn ich Sie hier allein lasse?“ Herr Gretzbach, Leiter des Fernstudienprogramms der JVA Tegel, verlässt den Lernraum.  Wolfgang, Timmy und Andreas blicken von ihren Computern hoch. Bis zu 15 Jahre Strafe müssen sie absitzen. Wegen eines kleinen Taschendiebstals ist hier niemand. Dann die Frage: „Möchtest Du Kaffee, Kuchen?“ Wir sind unter Studierenden, man duzt sich. Angst bekommt hier keiner.

Die Kommilitonen sitzen seit acht Uhr morgens in ihrem Lernraum. Auf dem Tisch liegen Studienhefte der Fernuni Hagen. Daneben stehen sechs PCs. Timmy tippt. Auf dem Bildschirm flimmert seine Hausarbeit in Soziologie  „Über die Rolle der Scham in deutschen Gefängnissen“. Es ist ruhig, kein Beamter in Sicht. Beschämend scheint einzig  die Literaturausstattung. Andreas greift hinter sich. Dann nimmt der angehende Wirtschaftswissenschaftler ein Handelsgesetzbuch von 1976 heraus. „Am Anfang ist der kleine Literaturbestand kein Problem, in den höheren Semestern wird das schwerer“, beschwert sich Wolfgang. Eine Hausarbeit lasse sich nicht mit Skripten und antiquierten Büchern schreiben.

Online-Zugriff gibt es hier nur beschränkt. Zur Fernuni haben die Studenten eine „getunnelte“ Verbindung. Diese ermöglicht den Zugriff auf alle Inhalte der Hochschule und das Chatten mit Kommilitonen. Timmy ruft stolz seine Handvoll Kontakte auf. Der Rest des World Wide Webs bleibt dunkel. Das Google Scholar der Gefangenen sind Fernleihen in der Bibliothek.  Etwas Licht fällt noch in den Tunnel. Timmy tippt „Unaufgefordert“ ins Wikipedia-Suchfeld. „Offline-Version von Ende 2014“, erklärt er.

Zeit für eine Kaffeepause. Der Rühr-Espresso schmeckt deutlich besser als im Grimm-Zentrum und man darf ihn sogar am Tisch trinken. Dazu wird Automatenkuchen aufgetischt. Köstlich. Ein Blick aus dem Fenster holt mich zurück in die Realität. Aufgetakelte Studierende der Kategorie Bibster wären hier fehl am Platz. Hinter den weiß-gestrichenen Gitterstäben kommen noch mehr Gitter, ein menschenleerer Innenhof und dahinter die Häuser der Gefangenen.

Timmy nennt diese Atmosphäre privilegiert. In der JVA Tegel herrscht Arbeitspflicht. Wer nicht arbeitet, der muss lernen. Während die anderen Insassen schuften, können die Studenten lesen und schreiben, was sie wollen.

Ist Studieren hinter Gittern also wie einst FKK im Osten – ein kleines Stück Freiheit inmitten der Überwachung? Es ist besser. Im Knast bekommt man sogar Geld fürs Studieren. Einzige Bedingung: Mindestens ein Modul pro Semester müssen die Gefangenen abschließen. Das entspricht bei der Fernuni Hagen circa  15 ECTS-Punkten. Das Knast-Bafög ist mager. Die rund 11 Euro am Tag werden nochmal aufgeteilt in Hausgeld und Eigengeld. Das Hausgeld ist für Kaffee und Kuchen, mit dem Eigengeld kann man zum Beispiel Bücher kaufen. Bei den Dreien wird aber fast alles gepfändet: Alle haben Schulden im fünfstelligen Bereich.

Lernen statt arbeiten klingt gut. Aber studiert man deshalb im Gefängnis? Erhoffen sich die Insassen bessere Jobchancen nach der Entlassung? Timmy, Wolfgang und Andreas interessiert das weniger. Sie sind auch keine Erstis mehr. Alle haben schon einmal studiert – bevor sie ins Gefängnis kamen. Wolfgang nennt Studieren „relative Freiheit“. Er sagt das so häufig, dass Timmy es als redundant beschimpft. Der will einfach „schlauer rauskommen als er reingegangen ist“ und Andreas, der Menschenscheue, will mit Akademikern zusammen sein. Ihm ist die harte Atmosphäre im Knast zu viel.

Die Studierenden der JVA Tegel wissen, dass sie es später schwer haben werden. Doch es macht ihnen Spaß, sich zu beweisen und Anerkennung für ihre Leistungen zu bekommen. Hauptsache, die Zeit gut nutzen. Auch unter den erschwerten Bedingungen im Gefängnis. Das Studium wollen sie alle zu Ende bringen.

Doch vorher geht es noch viele Male zurück in die Häuser, die Hafträume. Punkt 15.45 Uhr steht der Beamte in der Tür. Lernpause. Bis morgen.

Dieser Artikel stammt aus der aktuellen UnAufgefordert (Nr. 231, Juni 2015).