Mit dem Drama „Souleymanes Geschichte“ beweist der französische Regisseur Boris Lojkine, dass Migration auch menschlich erzählt werden kann. Das Gegenmittel zur europäischen Abschottung ist dabei die nachfühlbare Geschichte des Protagonisten.
Den Kinosaal füllt während des Abspanns eine minutenlange Stille – der Schock ist spürbar. Zum 25. Jubiläum der Französischen Filmwoche des Institut français d’Allemagne zeigen Berliner Kinos neben 30 weiteren französischen und frankophonen Filmen auch das packende Drama „Souleymanes Geschichte“ (2024) von Regisseur Boris Lojkine. Der mehrfach ausgezeichnete Film zeigt den stressigen Alltag des Guineers Souleymane, der ohne langfristige Aufenthaltsberechtigung als Fahrradlieferant in Paris arbeitet. Zwischen Verkehrschaos, Obdachlosenunterkunft und der harten Konkurrenz in migrantischen Communities am Rande der Gesellschaft probt Souleymane für die bevorstehende Anhörung im Asylverfahren. Nebenbei scheinen die Beziehungen zu den Liebsten in Guinea unvermeidbar zu bröckeln.
Der Film ist eine Vermischung von Fiktion und den echten Lebenserfahrungen des guineischen Hauptdarstellers Abou Sangaré, der sich mit 15 für den gefährlichen Weg übers Mittelmeer entscheidet, um seine kranke Mutter zu unterstützen. Nach dem einjährigen Weg über Algerien, ein Gefängnis in Libyen und Italien schafft er es schließlich nach Frankreich.
Auch nach der zweifachen Auszeichnung als bester Darsteller im Rahmen der European Film Awards sowie des Filmfestivals von Cannes kämpft Sangaré um eine langfristige Perspektive in Frankreich. Anfang des Jahres bekommt er dann ein Visum und geht nun wieder seiner Berufung als Automechaniker nach. Dem Guardian sagt Sangaré, dass er trotz dutzender Anfragen aus der Filmindustrie erst einmal weiter in der Garage stehen wolle.
Überlebenskampf statt „Traum Europa“
Permanent hetzt die wackelnde Handkamera Souleymane auf seinen Lieferfahrten hinterher – über rote Ampeln, durch den Pariser Regen, im Sprint zum letzten Bus, der ihn zur weit entfernten Obdachlosenunterkunft bringt. So gelingt es dem Film, den Zuschauenden die permanente Belastung einer solchen Lebenswirklichkeit nahezubringen. Das Gefühl, in einem Albtraum festzustecken und die Zeit davon rinnen zu sehen, zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Film. Jeden Morgen ertönen die Wecker in der großen Halle der Obdachlosenunterkunft – die Konkurrenz um einen Schlafplatz für die nächste Nacht und ein paar Euros zum Überleben geht von vorne los.
Szenen der Ruhe lässt Lojkines Drama eigentlich nur zu, wenn Souleymane vom Fahrrad steigt und das Essen abliefert. Doch selbst dann ist der menschliche Kontakt kurz angebunden und auf die Dienstleistung abgestellt. Der Film erzählt von einer distanzierten Gesellschaft, in der Empathielosigkeit und Gewalt zum Alltag gehören.
Und trotzdem gibt es Momente, in denen auch Menschen wie Souleymane, die selbst kaum über die Runden kommen, kurz innehalten, einem älteren Mann Gesellschaft leisten oder anderen Ratschläge geben. Damit zeigt der Film, dass migrantische Lieferfahrer*innen nicht bloß passive Opfer von Ausbeutung, sondern eben auch Menschen mit einer eigenen Geschichte sind. So stellt Lojkine seine Erzählung ganz bewusst der Anonymisierung und Entmenschlichung irregulärer Migrant*innen gegenüber.
Asyl in Europa – „legale“ und „illegale“ Flucht
Schon während Souleymane auf dem Fahrrad für die Asylanhörung probt, wird die ganze Absurdität dieser Verfahren klar. Bleiben darf in Europa nur, wer detailliert nachweisen kann, dass sie*er vor unmittelbarer Verfolgung geflohen ist – die Flucht vor extremer Armut oder Naturkatastrophen gilt nicht als legitimer Grund für Asyl. Deshalb sind Menschen wie Souleymane oft dazu gezwungen, Verfolgungsgeschichten zu erzählen, die ihnen so gar nicht zugestoßen sind. Die Wahrheit – die Geschichte einer Flucht aus der Perspektivlosigkeit – hilft meist nicht gegen die Abschiebung.
Auch zeigt der Film eindrücklich, wie Menschen im Asylsystem gegeneinander ausgespielt werden. Auf der einen Seite steht die Entscheiderin des Verfahrens, die aktiv nach Ungereimtheiten sucht und möglichst effektiv Asylgesuche aussortieren muss. Auf der anderen Seite stehen Menschen, die oftmals durch Erfahrungen der Flucht traumatisiert sind. Die diese Eindrücke dann in jedem Detail immer wieder nacherzählen müssen, um die eigene Not zu beweisen.
Ein ungeschöntes Bild europäischer Realitäten
Lojkines Drama schafft es auf außerordentliche Weise, die Zuschauenden in den bedrückenden Takt des Lebens eines migrantischen Lieferfahrers mitzunehmen. Dieser Rhythmus pendelt zwischen der Angst vor der drohenden Abschiebung und dem blanken Überleben hin und her. Die unruhige Kameraführung visualisiert Souleymanes extremen Stress und verhindert ein Abdriften während des Schauens. Durch den permanenten Fokus auf Souleymane ermöglicht der Film, sich zumindest in Ansätzen in die Verzweiflung dieser Lebenssituation hineinzudenken.
Und doch geht es im Film eindeutig nicht um einen Einzelfall. Die Kulisse der Konkurrenz im migrantischen Milieu der Lieferfahrer*innen zeigt die strukturellen Probleme einer europäischen Gesellschaft, in der die Flucht vor extremer Armut als illegitim angesehen wird. Einer Gesellschaft, in der Menschen wie Souleymane zu schicksalslosen, anonymen Zulieferern des Abendessens werden.
Genau dieser Entmenschlichung setzt Lojkine mit „Souleymanes Geschichte“ eine nahbare und immersive Erzählung entgegen. Der Film reiht sich so in eine Reihe wichtiger filmischer Arbeiten wie „Io Captino“ (2023), „Green Border“ (2023) oder „Kein Land für Niemand“ (2025) ein, die der immer stärker werdenden Politik des migrantischen Sündenbocks eine menschliche Perspektive entgegensetzen.
Foto: Film Kino Text / Filmgarten







