Die Veranstaltungsreihe „Literatur hinter Gittern“ organisiert im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals (ILB) Lesungen in Berliner Justizvollzugsanstalten, dieses Jahr: „Vierundsiebzig“ mit Ronya Othmann. Es treffen kulturinteressierte Häftlinge auf kulturinteressierte Besucher*innen – für alle Beteiligten eine wohl eher ungewöhnliche Erfahrung.

JVA des offenen Vollzugs, Teilanstalt Kisselnallee: Hinter Spandau, in dieser unscheinbaren Einrichtung für Straftäter auf dem Weg in die Resozialisierung ist heute Abend einiges los. Autorin Ronya Othmann stellt hier ihren neuen, für den Deutschen Buchpreis 2024 nominierten Roman „Vierundsiebzig“ vor. Nach einer Sicherheitskontrolle durch Polizeibeamte gesellen sich Gäste von außerhalb zu den hier residierenden Zuhörern – die Veranstaltung ist nämlich auch für Insassen geöffnet und so schwankt die Stimmung im Raum zwischen Anspannung und Neugierde. Man meint zwar recht schnell erkennen zu können, wer Insasse ist und wer Bildungsbürger*in auf Erkundungstour, aber so ganz sicher kann man sich tatsächlich nicht sein: Alle Anwesenden haben sich ungeordnet auf den provisorisch aufgestellten Stuhlreihen niedergelassen und der erste Eindruck täuscht mitunter.

Geprägt durch eigene familiäre Verbindungen thematisiert Othmanns Roman „Vierundsiebzig“ die Verbrechen, die der selbsternannte „Islamische Staat“ 2014 auf dem Höhepunkt seiner Macht an der ethnisch-religiösen Gruppe der Jesid*innen verübt hat. Was mittlerweile auch vom Deutschen Bundestag anerkannt wurde: Hierbei handelte es sich um den titelgebenden vierundsiebzigsten Völkermord an der nicht-muslimischen Minderheit, deren historische Siedlungsgebiete sich über Teile von Syrien, dem Irak und der Türkei erstrecken. Othmanns Roman befasst sich mit Islamismus und seinen Opfern, den schrecklichen Dingen, zu denen Menschen fähig sind, und mit einer ganz eigenen Perspektive darauf, denn als in Deutschland lebende Tochter eines jesidischen Vaters befindet sich die Autorin zugleich innen und außen. Kein leichtes Thema, aber ein wichtiges – besonders hierzulande, wo die zurzeit größte jesidische Diaspora lebt.

Die bei München aufgewachsene Autorin hat mit Anfang dreißig bereits einen Gedichtband („die verbrechen“) und einen Vorgängerroman („Die Sommer“) veröffentlicht. Zudem arbeitet sie als Journalistin. So betrieb Othmann unter anderem von 2019 bis 2020 gemeinsam mit der kurdisch-alevitischen Künstlerin Cemile Sahin die taz-Kolumne „Orient-Express“, (folgender Beitrag sei übereifrigen Studis auch aktuell mal wieder wärmstens ans Herz gelegt!).

Eine der vorgelesenen Stellen aus „Vierundsiebzig“ handelt von den 2021 in Deutschland stattgefundenen Prozessen gegen das Islamisten-Ehepaar „Jennifer W.“ aus Oldenburg und „Taha Al-J.“ aus Falludscha, Irak. Die beiden IS-Mitglieder haben im Jahr 2015 die verschleppte Jesidin „Nora B.“ und ihre fünfjährige Tochter Reda auf einem Sklavenmarkt in Rakka (Irak) gekauft und unter gröbster Misshandlung zur Arbeit im Haushalt gezwungen. Schließlich wurde die fünfjährige Reda von „Taha Al-J.” in gleißender Mittagshitze an ein Fenstergitter gefesselt, was den Tod des Mädchens verursacht hat.
Zwar hat sich durch Othmanns etliche Lesereisen nach der Buchpreisnominierung eine gewisse Routine eingestellt, aber schreckliche Stellen wie diese schildert sie in einer verletzlichen und zugänglichen Art und Weise, was eine bedrückende Nähe erzeugt.

Zudem entstehen für Literaturszene-Maßstäbe wohl eher untypische Begegnungen – der Moderator sinniert zwar sehr betroffen, aber noch ganz akademisch über die Verwendung von verschiedenen Erzählperspektiven, das Thema stößt aber auch bei Insassen durchaus auf Resonanz. Einem von Zeit zu Zeit zustimmend nickenden Häftling in Jogginghose ist es beispielsweise wichtig zu betonen, dass nicht alle Kurd*innen jesidischer Religionszugehörigkeit sind. Er zum Beispiel sei ebenfalls Kurde, allerdings Muslim. Spürbar mitgenommen vom Erzählten lässt der Mann es sich im Anschluss nicht nehmen, kundzutun, wie er mit derartigen Mördern umgegangen wäre: „Na Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich hätt‘ deren Familie umgebracht, ganz einfach“. Eine irgendwie ganz schön mutige Aussage in Anbetracht dessen, gerade sowieso schon im Gefängnis zu sitzen, sollte man meinen. Mithilfe dieses, Konfrontation fast schon erzwingenden Formats entsteht der leise Verdacht, dass man sich alltäglich in einem oft doch recht begrenzten Rahmen bewegt… und das auch ganz ohne hier eingesperrt zu sein!
Abgesehen von solch bereichernden Horizonterweiterungen ist aber auch „Vierundsiebzig“ nach dem Machtwechsel in Syrien gerade mal wieder sehr aktuell, denn die Sorge um die Sicherheit von religiösen Minderheiten im Land wächst. Wer mehr über die Kontinuität des entsetzlichen Umgangs mit Jesid*innen erfahren möchte, dem sei Othmanns Roman „Vierundsiebzig“ also ans Herz gelegt – obwohl man hier vielleicht sogar mehr erfährt, als einem lieb ist.

 

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