Ein Kirchenraum, der zum Konzertsaal wird: Die amerikanische Komponistin Kali Malone entfaltet mit Chor, Blechbläsern und Orgel ihr neuestes Werk und lässt das Publikum in faszinierende Klangwelten eintauchen.

Das letzte Mal, dass ich in einer Kirche war, ist schon lange her. Ähnlich geht es wahrscheinlich den meisten: Ein Kirchenbesuch ist ein besonderer Anlass.

In diesem Fall war der Anlass ein Konzert der amerikanischen Komponistin Kali Malone, die in der Kaiser-Willhelm-Gedächtniskirche ihr neues Album am 5. November All Life Long präsentierte. Malone ist vor allem für ihre Orgel-Kompositionen bekannt und gilt als eine der besten Künstler*innen im Bereich der kirchlich inspirierten und doch säkularen Musik. Veranstaltet wurde das Konzert vom CTM Festival.

Schon beim Betreten der Kaiser-Willhelm-Gedächtniskirche erlebt man, schlicht durch den Ort, einen ungewöhnlichen Moment, betritt eine andere Welt. Das Besondere und Ungewöhnliche ist ein Motiv, das sich durch den gesamten Abend zieht. 

Jedoch ähnelt anfangs noch vieles einem klassischen Konzert. Auf den Stühlen im Kircheninneren liegen Programme, die den Ablauf des Abends skizzieren. Entgegen der Albumstruktur von All Life Long, in dem Orgelstücke mit Kompositionen für den Chor und für Blechblasinstrumente abwechselnd rotieren, wird bei dem Konzert eine klare Trennung gesetzt; der Abend ist in drei Teile nach Instrumentenart strukturiert. Das Publikum findet sich langsam ein. Ein Mix aus älteren und jüngeren Besucher*innen, wie man ihn eher selten sieht bei Konzerten, anfangs ein leises Gemurmel, doch je mehr sich der Saal füllt – das Konzert ist nahezu ausverkauft – desto lauter wird es.

Die sakrale Atmosphäre und das andächtige Zuhören  

Das alles ändert sich fast schlagartig mit dem Beginn des Konzertes, nachdem Kali Malone und ihre Mitmusiker*innen durch den Mittelgang hoch zu ihrer Position an der Orgel gehen. Das Publikum verstummt und das Licht verdunkelt sich, wodurch die besondere Architektur der Kirche zur Geltung kommt. 

Die blauen Glasfenster haben einen beruhigenden Effekt, gelegentliche farbenfrohe Sektionen strahlen Optimismus und Lebensbejahung aus. Durch die Verglasung ist man von der Außenwelt nahezu isoliert. Im Zentrum des Altarbereichs befindet sich, quasi frei schwebend, eine goldene Jesus-Skulptur mit ausgestreckten Armen.

Den ersten Teil des Abends stellen die Chor-Kompositionen dar, aufgeführt vom Macadam Ensemble (Bruno Le Levreur, Benjamin Ingrao, Louis-Pierre Patron, Julien Guilloton). Von allen Teilen ist dieser der am stärksten kirchliche, geradezu sakral. Von der Orgel-Empore aus werden mit einer immensen Stimmstärke die Texte gesungen, teils auf englisch, teils auf italienisch. Die langgezogenen Wörter und der Rhythmus bieten dabei die Illusion einer kirchlichen Predigt. Doch die adaptierten Texte stammen nicht aus dem Mittelalter, der aktuellste ist gerade mal 17 Jahre alt, der älteste von 1845. Die kirchliche Atmosphäre wird durch die Positionierung des Chors verstärkt –  durch seine Unsichtbarkeit. Einige Besucher*innen versuchen nach hinten zu schauen, um einen Blick auf das Ensemble zu erhaschen, die meisten aber blicken nach vorne zum Altar oder haben ihre Augen geschlossen. Im Gesamtbild ist es ein andächtiges Zuhören; aufmerksam und meditativ. 

Blechblasinstrumente als Interlude

Der zweite Teil des Konzertes besteht  aus den Kompositionen für Blechblasinstrumente. Dieser Teil ist, kritisch betrachtet, der normalste und profanste Teil des Abends. Das liegt nicht an dem Spiel der Musiker*innen (Magnus Schriefl, Rike Huy, Elena Kakaliagou, Johannes Lauer, Weston Olencki), die alle ihre Rolle und die großartig komponierten Stücke von Kali Malone technisch einwandfrei spielen. Vielmehr ist es der räumlichen Situation geschuldet. Die Gruppe ist zentral vor dem Altar platziert und mit kleinen Leuchten auf den Notenpulten ausgestattet. Eine Gesamtsituation, die das Sakrale unterbricht und einen starken Kontrast zum vorherigen Teil darstellt. Die in sich gekehrte Haltung des Publikums ist nun fokussiert auf die Musiker*innen, jede Bewegung beobachtbar. Die Architektur der Kirche und die Ausstrahlung dieser Umgebung rücken in den Hintergrund. Stattdessen rückt, wie bei den meisten Konzerten, die Observation der Akteur*innen in den Fokus. 

Orgelmusik als Stimmung und psychedelische Meditation 

Der letzte und dritte Teil des Konzertes ist geprägt von der Orgel, dem Instrument, für das Kali Malone bekannt ist. In der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche befindet sich eine Schuke-Orgel mit fast 6000 Pfeifen in 63 Registern, die Malone in dem Ankündigungsbeitrag zum Konzert auf Instagram als „one of my favorites“ bezeichnet hat. Schon bei den ersten Tönen des Liedes  „All Life Long (for organ)“ wird klar, warum. Die Orgel hat einen angenehmen warmen Klang, der sich gleichmäßig im Raum verteilt und ihn füllt, ohne dabei aufdringlich zu wirken. Durch die hohe Anzahl an Pfeifen besteht außerdem eine große Klangvielfalt, die sich im Laufe der Kompositionen hörbar macht. 

Eine besondere Stärke von Kali Malones Musik und dem Konzert ist in vielfacher Weise dieStimmung. Das Erlebnis als Besucher*in ist dabei eines, das die historischen und im Alltag größtenteils verlorenen Bedeutungen des Wortes Stimmung vereint, so wie sie in den Beschreibungen des Romanisten und Literaturtheoretiker Leo Spitzer zu finden sind: Neben der Stimmung als Atmosphäre (zu english ambiance, dem gleichnamigen Genre wird auch Kali Malones Musik teilweise zugeschrieben) existiert auch die Stimmung im Sinne der musica mundana oder auch musica universalis, eine Weltmusik, die wiederum die Weltharmonie herstellt.  

Diese Idee, ausgehend von den antiken Griechen, insbesondere Pythagoras, hat sich später durch die christliche Tradition durchzogen und ist im Zuge der Aufklärung auch zum Opfer der von Weber attestierten Entzauberung der Welt geworden. Dass Kali Malones Musik nun genau in einer Kirche eine Wiederverzauberung gelingt, ist sicherlich kein Zufall, der Ort als solcher hat eine Energie, die den Effekt der Musik verstärkt. 

Die kleine Parallelwelt dieses Abends wurde besonders in diesem dritten Abschnitt des Konzertes in eine solche Harmonie-Stimmung versetzt. Das Publikum wurde als Ganzes zu einer temperierten Masse gestimmt, die einheitlich in Andacht und Ruhe der Musik lauscht, stärker noch als in den ersten beiden Teilen des Konzertes. 

Eine solche Harmonie-Stimmung ist aber auch äußerst fragil. In der antiken griechischen Konzeption hieß es, dass schon eine einzelne fehlende Saite des (spirituell metaphorisch gedachten) Welteninstruments die gesamte Harmonie zerstören würde. Ein Konzept, das sich in der christlichen Tradition des Mittelalters als summa wiederfindet. Im Falle des Konzerts ist eine einzelne Störung der Stille, etwa durch eine aufstehende Person oder das leise Zischen einer Trinkflasche, das was aus der Harmonie bringt und in den Momenten danach zu spüren ist. Die meditativ-kontemplative Ruhe ist kurzzeitig durchbrochen und es sind Rascheln und Bewegung im Publikum spürbar. Doch genau dann zeigt sich auch wieder die Magie von Kali Malones Orgelspiel, denn es dauert nicht lange, bis durch die Musik das Publikum wieder in Stimmung gebracht wird, die Weltharmonie wieder repariert ist. 

Der andere Aspekt der Stimmung, als seelischer Zustand, wird durch die meditativ bis psychedelische Wirkung der Orgelmusik bestimmt. Dies ist unter anderem auch auf die Zusammenarbeit von Malone mit Stephen O’Malley zurückzuführen. O’Malley ist seinerseits vor allem als Kernmitglied der Drone-Metal Band Sunn O))) bekannt. Diesen Einfluss spürt das Publikum besonders in den Passagen der Orgelkompositionen, in denen O’Malley assistiert, lange gehaltene Töne tanzen umeinander herum. Im Lied  „Prisoned On Watery Shore“ ist dies beispielsweise wunderbar zu hören.  

Die Rückkehr in die Welt des Profanen nach einem unvergesslichen Abend

Im letzten Lied des Abends werden die Klänge langsam leiser, von dem bombastischen Klang hin zu einem kaum hörbaren Flüstern der Pfeifen. Die präzise Kontrolle, mit welcher Malone die Orgel spielt, und die nahezu atemlose Stille des Publikums werden hierbei noch einmal imposant vereint und bewusst gemacht. Erst nachdem eine längere Stille und das Hervorkommen der Musiker*innen in den vorderen Altarbereich das endgültige Ende des Konzertes signalisierten, beginnt der Applaus des Publikums, der mehrere Minuten anhält. Danach wird das Publikum wieder in die Außenwelt entlassen, zurück ins Profane, das für die Zeit des Konzertes größtenteils durch das Sakrale ersetzt wurde. Als Souvenir bleibt die Erinnerung an einen einzigartigen Abend. Für mich steht nach dem Konzert fest, dass Kali Malone ihren Ruf als eine der talentiertesten zeitgenössischen Komponist*innen und Live-Musiker*innen absolut verdient hat.


Foto: W. Bulach