Mit I’m Still Here gewinnt erstmals ein brasilianischer Film den Oscar in der Kategorie „Bester internationaler Film“. Das auf wahren Begebenheiten beruhende Drama erzählt die Geschichte einer Familie, die zum Opfer der damals in Brasilien herrschenden Militärdiktatur wird und erntet in Venedig dafür 20-minütigen Beifall. Doch unter die Lobeshymnen mischen sich auch kritische Stimmen. 

Der im März 2025 in die deutschen Kinos gekommene Film von Regisseur Walter Salles wartet anfangs mit Bildern von Rio de Janeiro der 70er-Jahre in Postkarten-Ästhetik auf. Familie Paiva wohnt in einem geräumigen Haus in der wohlhabenden Südzone der Millionenstadt, nur wenige Schritte trennen die Kinder beim Ballspiel an der Copacabana vom häuslichen Abendessen. Gestört wird diese Oberschichtsidylle von der Militärdiktatur, die Brasilien von 1964 bis Mitte der 1980er regierte. Als Regierungsbeamte auftauchen und den Familienvater Rubens zum Verhör abführen, verabschiedet Eunice, Mutter der siebenköpfigen Familie, ihren Gatten und bleibt mit den Kindern unter Aufsicht der im Haus verbleibenden Beamten zurück. Eingesperrt und unter Beobachtung des Staates wartet die Familie vergeblich, denn Rubens Paiva kommt nicht zurück. Wie tausend Andere zählt er zu den „Desaparecidos“, den verschwundenen Opfern der brasilianischen Militärdiktatur. Seine politische Betätigung als Abgeordneter der Brasilianischen Arbeiterpartei (PTB) Jahre vor seiner Ermordung und sein oppositioneller Widerstand im Untergrund ließen ihn ins Visier der Behörden geraten.

Die Geschichte der Paivas beruht auf wahren Begebenheiten. Grundlage der Erzählung bildete das gleichnamige Buch des Sohnes Marcelo. Die von Fernanda Torres als resiliente Kämpferfigur verkörperte Eunice Paiva steht im Zentrum der Erzählung. Erst 1996 erhält die nach dem Tod Rubens Paivas zur Juristin ausgebildete Eunice die Bestätigung eines mittlerweile demokratischen Rechtsstaats, dass ihr Mann von den Militärs gefoltert und ermordet wurde.

Kurzbeinige Klassismus-Kritik

Wer nicht von Fernanda Torres zu Recht gepriesenem Schauspiel und dem Schmerz der Hauptprotagonistin mitgerissen wird, kritisiert die Abwesenheit der Gesellschaftsschichten, die am meisten unter der Militärdiktatur gelitten haben. Und tatsächlich ist es nur die Haushälterin der Familie, die daran erinnern könnte, dass sich nur ein paar hundert Meter von ihrem Arbeitsplatz entfernt die Blechhütten der Favelas an den schwarzen Felswänden auftürmen. Doch sei der Fokus auf Brasiliens bürgerliche Elite vielleicht nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass es sich bei Walter Salles um einen der reichsten Regisseure der Welt handelt, schreibt Patrick Holzapfel in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). Allerdings ist diese halbherzige ad hominem-Kritik hier fehl am Platz. Und das nicht nur, weil das voreilig gezückte Kriterium der Repräsentiertheit der am meisten Benachteiligten einen nur bedingt hilfreichen Bewertungsmaßstab für Filme darstellt. Vielmehr lässt sich der Klassenbias von I’m Still Here auch damit rechtfertigen, dass sich der Widerstand gegen das camouflierte Gewaltmonopol zuerst tatsächlich größtenteils in elitären Kreisen wie dem des Ex-Abgeordneten Rubens Paiva formierte. Zudem spricht auch Salles‘ bisherige Filmographie gegen die Behauptung, er würde sich ausschließlich für die Geschichten der gesellschaftlich Bessergestellten interessieren – man denke zum Beispiel an Central Station (1998) oder Hinter der Sonne (2002).

 Ein entpolitisiertes Politdrama?

Angesichts des behandelten Themas ist es zu begrüßen, dass sich I’m Still Here an ein breites Publikum richtet. Allerdings lässt sich bezweifeln, ob die individuelle Leidensgeschichte Mutter Eunices eine gute Grundlage für die Erinnerung an eine Brasilien immer noch heimsuchende Vergangenheit bildet, der eigentlich nur eine kollektive Aufarbeitungsbereitschaft wirklich Rechnung tragen kann. Berechtigt scheint in diesem Zusammenhang auch die Kritik daran, dass sich das Politische hauptsächlich auf die domestische Sphäre beschränkt. Dass das bestens funktionieren kann, hat uns Mohammad Rasoulof erst kürzlich in Die Saat des heiligen Feigenbaums (2024) bewiesen. Doch während der emanzipatorische Kampf der Frauen gegen das Mullah-Patriarchat in den eigenen vier Wänden dort einer enormen Politisierung des Privaten gleichkam, bleibt diese in Salles‘ Film aus. Trotz dieser Vorbehalte gelingt es I’m Still Here durchaus, das klaustrophobische Gefühl zu vermitteln, das aufkommt, wenn die Militärdiktatur schweigsam die heimische Diele belagert und einen nicht nach draußen lässt. Elegant ist dabei auch, wie jene bedrückenden Szenen mit den durch die zugezogenen Schlafzimmergardinen dringenden Geräusche der über die Stadt kreisenden Helikopter akustisch antizipiert werden.  

Echos der Vergangenheit 

Der Zeitpunkt, zu dem I’m Still Here Zuschauer*innen mit diesem dunklen Kapitel der jüngeren brasilianischen Geschichte konfrontiert, könnte politisch wohl nicht brisanter sein. Nachdem im Januar 2023 ein blau-gelber Mob es den nordamerikanischen Kapitolstürmer*innen gleichtat und den brasilianischen Kongress in Brasilia besetzte, ist die juristische Aufarbeitung nun in vollem Gange. Unter den 34 Angeklagten befinden sich neben ehemaligen Ministern und Generälen auch der rechtspopulistische Ex-Präsident Jair Bolsonaro selbst, der von den Plänen der Putschist*innen, inklusive der Ermordung des derzeitigen Präsidenten Lula da Silva, gewusst haben soll. Natürlich sieht sich der frühere Fallschirmjäger-Hauptmann ähnlich wie Le Pen in Frankreich oder die AfD hierzulande als Opfer einer politisch motivierten Hexenjagd, zu der sich ihre Widersacher mit der Justiz verschworen haben. Ein kleines, von Salles verstecktes Easter Egg lässt Eunice Paiva aus den 1980ern heraus diese politische Gegenwart kommentieren. Als sie etwas aufzuschreiben beginnt, folgt die Kamera von Adrian Tejido der Hand Eunices und lässt uns ein kurzes Innehalten nach dem Verfassen der ersten zwei Worte bemerken: „Ele não“ („Er nicht“) steht für einen kurzen Moment alleine auf dem Blatt Papier und gibt damit analog den Hashtag wieder, der die Bolsonaro-Gegner*innen im Internet in den letzten Jahren symbolisch einte. Auch wenn Bolsonaros Wiederwahl 2026 aufgrund einer vorherigen Verurteilung wegen Machtmissbrauchs und Verbreitung von Fake-News als so gut wie ausgeschlossen gilt, bleibt die mit in den USA vergleichbare Polarisierung im größten Staat Lateinamerikas weiterhin bestehen. Selbst ohne diese subtile Positionierung lässt I’m Still Here keine Zweifel, auf welcher Seite der Film im Kampf um die kulturelle Deutungshoheit über die brasilianische Geschichte steht. Dass Walter Salles’ neuer Film dem bestehenden politischen Tribalismus damit nicht entgegenwirkt, ist dabei genauso wahr, wie es ein Verdienst ist, einen manchmal mühsamen öffentlichen Diskurs anzuregen, um die nationale Vergangenheit nicht der nostalgischen Geschichtsverklärung zu überlassen.


Foto: Die Familie 3 © Alile Onawale, VideoFilms, DCM