Wer liebt, vergibt? Rose muss sich entscheiden, wie viel sie ihrem Bruder Sam vergeben kann, nachdem diesem Vergewaltigung vorgeworfen wird. Der deutsche Berlinale Panorama Beitrag wirft Fragen der Mittäterschaft, Geschwisterbeziehung und sexueller Gewalt auf.
Nachdem #MeToo und die Vorwürfe gegenüber Harvey Weinstein 2017 durch eine New York Times Recherche öffentlich wurden, erhob sich eine Welle der Fassungslosigkeit: Wie konnte ein Mensch so lange geschützt werden und warum hat ihn niemand schon viel früher öffentlich angeklagt? Natürlich ging es hier mehr um Macht und Karriere, aber die Weinstein Company wurde schließlich auch von den Geschwistern Bob und Harvey gegründet. Warum hat Bob nie gesprochen?
In kleinerem Rahmen beleuchtet Schwesterherz diese Dynamik. Rose ist nach einer Trennung ohne Dach über dem Kopf und kommt kurzfristig bei ihrem Bruder Sam, liebevoll von ihr „Sami“ genannt, unter. Beide navigieren ihr Leben in der Großstadt als junge Singles und gelegentlich muss Rose ihren Platz in Sams Bett räumen, um einer nächtlichen Besucherin Platz zu machen. So weit, so alltäglich. Doch nachdem eine dieser Nächte auf dem Sofa für Rose schon fast in Vergessenheit geraten ist, erhält sie einen Brief. Eine Vorladung der Polizei zur Zeugenbefragung. Der Vorwurf lautet: Vergewaltigung. Angeschuldigter: Sam.
Nun muss Rose sich entscheiden. Geht sie freiwillig dorthin? Wäre das ein Betrug an Sam? Und hat sie überhaupt etwas gesehen? Könnte ihr geliebter Bruder jemandem so etwas antun? Rose geht zur Befragung, aber kann nur scholzesque Aussagen à la “Ich kann mich nicht erinnern” von sich geben. Doch was zunächst nur wie ein großes Missverständnis wirkt, wird Stück für Stück Realität. Je mehr Details ans Licht kommen, desto mehr wird klar, dass Sam nicht nur die Polizei, sondern auch sie anlügen könnte.
Die Regisseurin Sarah Miro Fischer schafft es hier wahnsinnig empathisch eine Geschichte der Grauzonen zu erzählen, die es sich nicht zu leicht macht. Sie zeigt, dass Verantwortung eben auch oft mehr Bürde als Geschenk ist und wie leicht es ist, den kurzen und einfachen Weg zu nehmen. Dadurch, dass die Geschichte so nah an der Lebensrealität vieler junger Menschen ist, fragt sich der Zuschauende schnell, was hier das Richtige ist. Aber wie viel Empathie gibt es dann wirklich, wenn einem geliebten Menschen droht, Jahre des Lebens im Gefängnis zu verlieren?
Die Nebencharaktere sind ebenfalls sehr spannend ausgestaltet. So gibt es beispielsweise Lia, deren Beziehung zu Sam nicht ganz klar wird (Irgendwo zwischen Liebes- und Freundschaftsbeziehung), die sich aber schnell von ihm distanziert und auch Rose (zurecht) für ihre Passivität verurteilt. Sobald allerdings etwas Gras über die Vorwürfe gewachsen ist, ist sie die Erste, die sich von Sams Worten wieder überzeugen lässt. Sie zeigt: Wer sich zu sicher ist, muss sich die Erkenntnis nicht verdienen und steht dann zu oft nicht zu den eigenen Worten.
Foto: Selma von Polheim Gravesen / dffb