Wie können Annäherung und Dialog im Nahen Osten gelingen? Rund um diese   Frage kreiste am 4. Dezember 2024 eine Dialogveranstaltung unter dem Titel „Voices for Peace“. Unser Autor Tobias Würtz war für die UnAuf tief im bürgerlichen Südwesten Berlins – an der Freien Universität.

Es ist ein nasskalter Dezemberabend, an dem sich zwei Aktivist*innen der israelischen Bewegung „Standing Together“ in einem Gebäude in der Thielallee an der Freien Universität treffen. Im großen, halbvollen Auditorium findet eine Gesprächsveranstaltung mit einer palästinensischen und einer jüdischen Person aus Israel statt.

Auf dem Podium sitzen sich Itamar Avneri und Amal Ghawi gegenüber. Beide sind für linke Aktivist*innen sehr schlicht in schwarz gekleidet. Sie passen damit habituell gut in den akademischen Rahmen, in dem die Veranstaltung stattfindet. Als sie auf dem Podium Platz nehmen, wirken beide angespannt und erschöpft. Was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Der Abend wird ohne Störungen verlaufen. Als der Israeli Itamar Avneri auf Englisch das Wort ergreift, hellen sich die Gesichter der Aktivist*innen auf. Er wählt seine Worte mit Bedacht: Die Realitäten und Herzen seien nach dem Massaker des 7. Oktober gebrochen und die Regierung scheine sich in diesem Konflikt nicht für die Belange der Zivilbevölkerung zu interessieren. Gleichzeitig gebe es in Gaza allein 15.000 getötete Kinder sowie unzählige getötete israelische Geiseln. Die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu nennt er „genozidal“.

 Opposition aus der Zivilgesellschaft

 Avneri beherrscht die Kunst der politischen Rhetorik ausgezeichnet. Seine Aussagen sind mal abwägend, mal humorvoll, jedoch stets präzise und klar. Der 39-Jährige ist einer der Gründer der sozialen Bewegung „Standing Together“ und sitzt in der Opposition des Stadtrats in Tel Aviv-Jaffa. Gleichwohl betont er, dass es sich bei „Standing Together“ ausdrücklich um eine zivilgesellschaftliche Bewegung handle und nicht um eine politische Partei.

Amal Ghawi, die ihm gegenüber sitzt, eröffnet die Diskussion ebenso eloquent wie persönlich. Sie erzählt von ihrer Erfahrung als in Israel lebende Palästinenserin. Palästinenser*innen in Israel wären die Ersten gewesen, die nach dem furchtbaren Terrorangriff der Hamas attackiert wurden. Allzu schnell sei in der unmittelbaren Umgebung nach arabischem Blut gesucht worden, nach Menschen, denen man die Schuld zuschreiben könne.

 Eine Logik, in der die palästinensischen Israelis pauschal als Täter*innen markiert wurden. Dabei wurde ihnen ganz grundsätzlich die Empathiefähigkeit abgesprochen, so wurden sie aus der kollektiven Trauer ausgeschlossen – eine schmerzliche Erfahrung. Nach dem 7. Oktober habe Ghawi dann den Entschluss gefasst, ihren Job als Journalistin aufzugeben, um sich in der sozialen Bewegung zu engagieren. „Zuvor fühlte ich mich wie die Einzige, die so dachte. Bei Standing Together wurde dann der Schmerz aller gesehen. Alles, was zwischen uns stand, schmolz.“

Raum für geteilten Schmerz

Spätestens an dieser Stelle ist klar, dass die beiden sich hier auf der Bühne keineswegs als Gegner*innen gegenübersitzen. „Standing Together“ ist eine sozialistische soziale Bewegung. Die erklärten Ziele sind: das Ende des Krieges, das Ende der illegalen israelischen Besetzung palästinensischer Gebiete, ein Waffenstillstand, die Freilassung der Geiseln und ein „echter“ israelisch-palästinensischer Frieden. Die Bewegung gründete sich bereits 2015, in Reaktion auf die dritte Intifada, die den Namen „Intifada der Messer“ trug. Dabei attackierten Palästinenser*innen zwischen 2015 und 2016 im israelisch-besetzten Westjordanland täglich israelische Menschen aus der Zivilbevölkerung, Armee und Polizei. Bereits vor dem Ausbruch des Krieges organisierte „Standing Together“ Demonstrationen gegen die umstrittene Justizreform der rechten israelischen Regierung. Später wurden sie zu einer treibenden Kraft im Protest gegen den gegenwärtigen Krieg in Gaza. 

 Wer den verknöcherten, festgefahrenen Diskurs zum Nahostkonflikt kennt, der wundert sich über die Leichtigkeit, die an diesem Abend innewohnt. Im Raum ist ein wohlwollender Wille, den Anderen zu verstehen, spürbar. So kommt aus dem Publikum zum Beispiel die Frage, wie die Bewegung mit der trennenden Dimension des Schmerzes und der sehr persönlichen Betroffenheit umgehen würde. Darauf meint Avneri: „Schmerz ist ein produktiver Zustand. Es bedeutet, du bist am Leben und dass es dich betrifft.“ Es ginge nicht darum, den Schmerz zu vergessen, sondern ihm Raum zu geben. Natürlich seien viele noch nicht bereit, ihre Erfahrungen und ihr Empfinden zu teilen. Aber wenn sie es dann irgendwann wären, dann sei „Standing Together“ da, um einen gemeinsamen Gesprächsraum zu eröffnen.

  „Völlig klar, man muss sich auf einer Seite positionieren“, meint Avneri. Es gelte dabei aber nicht zu wählen zwischen Israel und Palästina oder, schlimmer noch, zwischen Netanjahu oder der Hamas. Vielmehr gelte es, sich zu positionieren auf der Seite des Friedens und auf der Seite der Zivilbevölkerung.

 Itamar Avneri: „Die deutsche Regierung muss sich auf die Seite der Zivilbevölkerung stellen.“

 Orientierungslos und ohne klare politische Kontur erscheint in dieser Hinsicht auch die Rolle der deutschen Bundesregierung. Dementsprechend klar fällt Avneris Kritik aus: „Staatsräson oder was auch immer – ich bin dafür!“ Jedoch könne man sich damit nicht der Verantwortung für die falsche Politik und den grausamen Krieg der israelischen Regierung entziehen. Umgekehrt trage man durch Waffenlieferungen eine eigene Verantwortung für das entsetzliche Leid. Man müsse sich also politisch gegen die israelische Regierung positionieren und die falsche Anschuldigung des Antisemitismus ertragen. Letztlich müsse man sich dann der rebellierenden Zivilbevölkerung zuwenden.

 Wenngleich eine derartige Positionierung der deutschen Regierung wohl durchaus wünschenswert wäre, so verfängt an dieser Stelle die propagierte Trennung zwischen Zivilbevölkerung und Politik. Wurden Netanjahu und Ben-Gwir nicht in einem demokratischen Verfahren gewählt? Inzwischen liegt es fast 30 Jahre zurück, dass „Bibi“ erstmals eine israelische Regierung leitete – Fortsetzung ebenso ungewiss wie unheimlich. So vernünftig die Positionen der Diskutant*innen auch erscheinen mögen, sie stellen im israelischen Diskurs einstweilen eher randständige Positionen dar.

Nach der Veranstaltung steigen viele der Zuhörer*innen in die kleinen, gelben Waggons der U3, um zurück in Richtung Berliner Innenstadt zu fahren. An diesem Abend bleibt eine positive, optimistische Stimmung.​ Das Gespräch zeigt eindrucksvoll: Die Veränderung beginnt oft schon im Kleinen – in der alltäglichen Begegnung und Annäherung. Eine Veränderung wird aber nur dann erfolgreich sein, wenn sie sich auch auf politischer Ebene durchsetzt. Für die Menschen, die im Krieg jeden Tag um ihr Leben fürchten, erscheint diese langfristige Perspektive nur wenig tröstlich. Zweifelsohne wird an diesem Abend deutlich, dass es dringend einen gemeinsamen Diskurs braucht. Amal Ghawi sagt dazu: „Wir werden immer wieder gefragt: Was ist eure Position zur Zweistaatenlösung, was sind eure konkreten politischen Forderungen? Wenn Menschen zu uns kommen, stellen wir erstmal die Frage: Willst du Kaffee oder Tee? Wenn wir dann zum Beispiel gemeinsam einen Film schauen, dann kommt man eh ins Gespräch.“


Foto: Tobias Würtz