Philip Schlaffer hat sich im Alter von sechzehn Jahren radikalisiert, war zwanzig Jahre lang in der rechtsextremen Szene aktiv und Präsident des später verbotenen Outlaw-Motorcycle Clubs „Schwarze Schar MC“. Im Interview erzählt der heute 45-Jährige, warum Angst oft eine Rolle bei der Radikalisierung spielt, wie es zu seinem Ausstieg gekommen ist und was er jetzt macht.
UnAuf: Du kommst aus Lübeck in Schleswig-Holstein. Wie bist du damals in Kontakt mit der rechtsextremen Szene gekommen?
Philip Schlaffer: Das kann man gar nicht so direkt sagen. Wir haben uns als ein paar wütende junge Leute zusammengetan, die das Gefühl hatten, sie passen nirgendwo richtig rein.
Wir haben uns erst einmal über Musik zusammengefunden, über die „Böhsen Onkelz“. Die haben uns eine Stimme gegeben. Ich bin dann sehr schnell zu anderer deutscher Musik gekommen, zum sogenannten „klassischen“ Rechtsrock. Da fühlte ich mich abgeholt. Die Welt wurde mir erklärt. Und in dieser Gruppe von sechs, sieben, acht Jungs haben wir uns dann hoch radikalisiert.
Du warst damals nicht nur Mitläufer. Du bist innerhalb der rechtsextremen Szene zum Rockerboss aufgestiegen, hattest mit Waffen, Drogen und Prostitution zu tun, warst also ganz klar Täter. So beschreibst du dich auch selbst. Warum bist du mit deiner Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen?
Es war gar nicht meine Idee, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Mit Mitte dreißig, nach zwanzig Jahren in diesem Leben, ist wirklich alles in sich zusammengefallen. Ich wollte es auch zusammenstürzen lassen und bin dann von einem sehr großen Ego sehr, sehr tief gefallen. Mir wurde auf einmal bewusst, dass ich Täter war. Es hat dann eine Zeit gedauert, bis ich mich an die Seelsorge und an den psychologischen Dienst im Gefängnis gewandt und gesagt habe, ich brauche Hilfe, mein Leben aufzuarbeiten. Das wurde dann schrittweise besser. Aber es war ein Prozess von Jahren.
Und irgendwann, nachdem ich schon eine gute Strecke zurückgelegt hatte, ist die Gefängnisleitung auf mich zugekommen und meinte, wenn ich mich stabil genug fühlte, sollte ich mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit gehen, um aufzuzeigen, wie aus einem Jungen aus behütetem Haushalt ein Mensch wurde, der all diese Dinge gemacht hat.
Was sagst du zu dem Vorwurf der Selbstinszenierung aufgrund deines öffentlichen Auftretens?
Für manche werde ich als Ex-Neonazi immer ein Nazi bleiben, doch ich glaube, dass besonders in der präventiven Arbeit viele Straßen nach Rom führen. Den einen holt man öffentlich ab, den anderen privat. Ich maße mir nicht an, zu sagen, ich weiß, wie der Hase läuft. Aber ich halte das nicht für schlimm, in die Öffentlichkeit zu gehen und darüber zu sprechen, was in meinem Leben passiert ist.
„Es ist oft auch einfach viel Desinteresse da.“
Du hast vorhin gesagt, du hattest das Gefühl, nirgendwo dazuzugehören. Hattest du auch Angst, nicht dazuzugehören? Hat das auch eine Rolle bei deiner Radikalisierung gespielt?
Bei mir war es eher so, dass ich immer wieder versucht habe, dazuzugehören, darin aber gescheitert bin. Meine Eltern und ich sind auch mal ausgewandert nach England, dann wieder zurück nach Deutschland. Ich habe mich bemüht, Anschluss zu finden, aber ab einem gewissen Punkt habe ich dann gesagt: Jetzt will ich auch nicht mehr.
Allgemein gefragt: Inwieweit gibt es aus deiner Sicht eine Verbindung zwischen Angst und Radikalisierung?
Es gibt ganz unterschiedliche Motivationen. Aber Angst spielt schon eine große Rolle. Wir sehen gerade eine starke Radikalisierung innerhalb der deutschen Gesellschaft, die viel mit Zukunftssorgen und Ängsten zusammenhängt – so nach dem Motto: „Ich könnte meinen Stellenwert, meine Position verlieren.“
Extremisten arbeiten alle mit Angst. Auch mir wurde als junger Mann gesagt: „Wenn du nichts tust, dann wird dein ‚Volk‘ aussterben. Dann wird Deutschland untergehen, dann wird Europa untergehen.“ Und die Angst, mit der gearbeitet wird und mit der auch ich später gearbeitet habe, ist ein ganz großer Faktor. Extremisten nutzen diese Angst und sagen: „Wenn ihr uns wählt, wenn wir an die Macht kommen, dann braucht ihr keine Angst mehr haben, dann kümmern wir uns um euch. Denn wir sind die Guten. Wir sind nicht gegen jemanden, sondern wir sind für unser Volk.“
Du machst Präventionsarbeit, unter anderem an Schulen. Was hast du bei deiner Arbeit mit den Jugendlichen beobachtet? Was sind typische Auslöser, die zu einer Radikalisierung führen können?
Ich arbeite ja nicht nur mit Radikalisierten, sondern auch mit jungen Gewalttätern. Und da ist häufig der Fall, dass im Elternhaus etwas verrutscht. Damit meine ich jetzt nicht nur, dass das Elternhaus durch Scheidung, Todesfall oder Ähnliches kaputt ist. Es ist oft auch einfach viel Desinteresse da.
Ich beschäftige mich sehr intensiv mit dem Internet und das spielt leider auch eine große Rolle. Ich bin nicht per se gegen Social Media. Ich nutze Social Media selber und es hat viel Licht, aber auch Schatten. Das, was ich heute sehe, ist, dass junge Leute sich selbst radikalisieren können. Wo früher vielleicht noch eine Gruppe nötig war, also rauszugehen zu einer gewissen Kameradschaft, zu Treffpunkten, geht das heute allein übers Handy. Ich bin ein großer Feind der App TikTok. Da sind Extremisten jeglicher Couleur unterwegs mit einer massiven Reichweite. Man wird innerhalb von wenigen Minuten mit Inhalten bombardiert und die sind teilweise richtig gut gemacht. Man braucht heute für ein gutes Video nichts mehr außer einem Handy. Und diese Flut an Informationen kann kaum einer mehr bewältigen.
„Rechtsextremismus ist keine Lösung, sondern das Problem.“
Warum braucht es Täterperspektiven in der Präventivarbeit?
Im Kampf gegen Rechtsextremismus ist es wichtig, den Opfern rechtsextremer Gewalt Raum zu geben. Sie müssen erzählen können, was ihnen passiert ist, wie es ihr Leben verändert hat und warum es essentiell wichtig ist, gegen Rechtsextremismus vorzugehen. Gleichzeitig sollten wir auch erfahren, was die Faszination und der Mythos des Rechtsextremismus sind. Dazu können Menschen beitragen, die selbst Teil davon waren. Sie können erzählen, welche Mechanismen es gibt, was die Enttäuschungen sind und wie sie ihren Weg herausgefunden haben. Wenn wir all diese Aspekte zusammenbringen, wird deutlich: Rechtsextremismus ist keine Lösung, sondern das Problem.
Was würdest du jemandem raten, dessen Freund*in gerade in rechte Kreise gerät? Was hätte dir damals geholfen?
Das ist gar nicht so einfach. Man kann immer wieder versuchen, der anderen Person zu signalisieren, dass sie sich verändert. Jemand, der sich radikalisiert, wird zunehmend wütender. Ich glaube, dass es wichtig ist, immer wieder zu sagen: „Ich finde das gerade nicht gut, was du sagst, aber ich mag dich immer noch als Mensch.“ Auch das ist wichtig. Ich würde die Tür nie zuschmeißen und sagen „So, das war’s“.
Das Wichtige ist natürlich, nicht so tief in die Diskussion reinzugehen, denn man kann die Diskussion gegen Extremisten auch verlieren. Aber es wäre mir schon wichtig, immer wieder zu sagen: „Pass auf, du bist mir wichtig als Mensch, nur das, womit du dich gerade beschäftigst, das, was du sagst, damit kann ich nicht umgehen.“
Anm. d. Red.:
Die Anlaufstelle MBR (Mobile Beratung Rechtsextremismus Berlin) bietet Unterstützung im Umgang mit Rechtsextremismus, auch im eigenen Umfeld.
Kontakt: info@mbr-berlin.de
VBRG ReachOut Berlin ist eine Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt.
Kontakt: info@reachoutberlin.de.
Foto: Extremislos e.V.