Bei dem Gedanken an eine freie und ausgewogene Debatte liegen ein paar Grundsätze auf der Hand: Ausreden lassen, Zuhören, Empathie zeigen und selbstverständlich: ein geschützter Gesprächsraum, ohne die Bedrohung einer möglichen Verhaftung. In all seiner Banalität war es vor allem der letzte Punkt, der zum Scheitern der Diskussion zwischen den palästina-solidarischen Besetzer*innen des Instituts für Sozialwissenschaften und dem Präsidium der HU führte.
Mehr als acht Monate dauert der Krieg in Gaza nun an und mit ihm auch die vielschichtigen Diskussionen über einen Umgang mit dem unermesslichen Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung, die immer neuen militärischen Angriffen ausgesetzt ist und dem Leid der Israelischen Geiseln, die sich seit dem Terroranschlag vom 7. Oktober in der Gewalt der Hamas befinden. Deshalb hat es durchaus Mut gemacht, dass es aufgrund der Besetzung endlich zu einem Austausch zwischen den Protestierenden und dem Präsidium der HU kommen sollte.
Der Deal war klar: Präsidentin Julia von Blumenthal und einige Professor*innen des ISW, darunter auch die Institutsleitung Anette Fasang, stellen sich den Forderungen der Protestierenden und debattieren mögliche Lösungen. So weit so gut. Den Anwesenden wurde zugesichert, dass das Institutsgebäude bis zum Ende der Diskussion gegen 18:00 Uhr nicht von der Polizei betreten werden darf und dass es beim Verlassen des Gebäudes nicht zur Identitätsfeststellung kommt. Soweit leider nicht so gut, denn das Präsidium machte die Rechnung ohne die Polizei. Immer wieder führten Berichte von Studierenden über Handgreiflichkeiten vor dem Institutsgebäude zu einer Unterbrechung des Gesprächs im Inneren.
Spätestens als bekannt wurde, dass beim Verlassen des Gebäudes die Identität aller Teilnehmenden festgestellt werden sollte, war an eine konstruktive Debatte nicht mehr zu denken. Wie auch? Mit einer Hundertschaft feinster Robocop-Polizist*innen vor der Tür, ist es wohl kaum verwunderlich, dass die Studierenden, viele von ihnen mit Migrationsgeschichte oder ohne deutschen Pass, besonders um die eigene Sicherheit fürchteten. Von einer offenen Gesprächssituation konnte angesichts der drohenden Repressionen nicht mehr die Rede sein. Stattdessen stellte sich vor allem eine Frage: Was kann die Präsidentin Julia von Blumenthal für die Anwesenden tun? Die Antwort war so traurig wie einfach – nichts. Ob es die Entscheidung der Präsidentin war oder sie sich dem politischen Druck des Berliner Bürgermeisters Kai Wegner und zwei Senatorinnen beugen musste, lässt sich von außen schwer beurteilen.
So oder so hat Julia von Blumenthal ihre Entscheidung getroffen – sie hat die Chance verpasst, sich vor ihre Studierenden zu stellen und die Uni als einen Ort der Debattenkultur zu verteidigen. Was als konstruktiver Diskurs und mit einer mehr oder weniger glaubhaften Anteilnahme von Frau Prof. von Blumenthal begann, wurde schlussendlich von einem unnötig eskalativen Polizeieinsatz in den Schatten gestellt. Während die meisten Studierenden noch darauf warteten, das Institutsgebäude freiwillig verlassen zu dürfen, fing die Polizei an, gewaltsam zu räumen. Einige wenige stellten sich der Polizei entgegen, darunter auch Fakultätsmitglieder, die laut Zeugenberichten versuchten, die Protestierenden von der Polizei abzuschirmen. Trotzdem setzte die Polizei Pfefferspray ein und Studierende wurden verletzt. Auch Journalist*innen vor dem Institut wurden teilweise von Beamten angegriffen und an ihrer Arbeit gehindert, wie auch die Berliner Zeitung berichtete. In einem noch am selben Abend veröffentlichten Statement spricht die Universität von einem „ernsthafte[n] Versuch, einen Dialog zu führen“ der hätte abgebrochen werden müssen. Das Vorgehen der Polizei gegenüber Studierenden und Lehrenden wird hier genauso wenig kritisiert, wie die mangelnde Fähigkeit, sich an die vorab getroffenen Absprachen zu halten.
Was bleibt, ist vor allem ein bitterer Geschmack. Statt des notwendigen Diskurses über eine mögliche Solidarisierung mit den schätzungsweise 35.000 Opfern in Gaza verschiebt sich die Diskussion nun zum Umgang mit dem in Teilen antisemitischen, aber in der Sache doch legitimen Protest an deutschen Unis. Dass der Bürgermeister laut der Uni-Leitung persönlich für das Ausmaß dieses Einsatzes verantwortlich ist, lässt einen schlucken. Und auch wenn einige Professor*innen, trotz inhaltlicher Differenzen, bis zum Ende versuchten die Protestierenden vor der Polizeigewalt zu schützen, so fragen sich trotzdem viele, ob Julia von Blumenthal diese Räumung nicht doch, im Zweifel gegen den Willen des Bürgermeisters, hätte aufhalten oder immerhin hinauszögern können. Gerade letzteres wirft zudem eine weitere Frage auf: Wie kann es sein, dass die Stadt in diesem Ausmaß in den universitären Diskurs eingreifen kann? Ein Diskurs der gerade wichtig ist, um die Grenzen zwischen legitimer und auch notwendiger Kritik an dem Krieg in Gaza und antisemitischer Diskriminierung auszuloten. Diese Fragen müssen zeitnah beantwortet werden, damit sich die Debatte wieder um das drehen kann, um das es hier eigentlich geht: das Leid der Menschen im Nahen Osten.
Foto: Daphne Preston-Kendal