Grindr ist eine Dating-App, die meist von homosexuell männlich gelesenen Personen verwendet wird und der Vereinbarung von Hook-Up-Dates dient – doch hinter harmlosen Nachrichten steckt oft ein System aus Sexualisierung, Objektifizierung und psychischem Druck.
„Hast du noch mehr Pics?“ Nicht nur ein guter Freund von mir, den ich schon seit Jahren kenne, hat diese Nachricht schon etliche Male auf Grindr erhalten. Auch viele andere schwule Männer und andere Freunde haben die Erfahrung machen müssen, dass Fotos, wie man sie auf anderen Dating-Apps wie Tinder oder Hinge postet, auf Grindr nicht genug sind. Man will mehr Pics und keine Bilder von Freund*innen oder Haustieren sehen, sondern Dick-Pics oder Bodyshots, am besten gleich nackt vorm Spiegel.
Per Chat werden einem nicht Fragen zur Person, sondern zum Körper gestellt: Wie lang ist der? Hast du ein Sixpack? Bist du Top? Im Gesicht meines Freundes sehe ich, wie verletzt er jetzt, drei Monate nachdem er Grindr gelöscht hat, von diesen Nachrichten ist, sehe, wie sehr er sich und die Sexualisierung auf Grindr verurteilt. Es gab Phasen, in denen er drei Mal pro Woche Hook-Ups hatte. Rückblickend erkennt er seine Abhängigkeit von der Bestätigung, die er im Sex mit anderen Männern gesucht hat. Der Schritt, die App zu löschen und sich von der Bestätigung zu lösen, war schwer, sich etwas zu geben, erzählt er, von dem man nie gelernt hat, es sich selbst zu geben, war noch schwerer.
Grindr und die Ordnung der Dinge
Fragen nach Körperbau, Penislänge und Aussehen sind auf Grindr an der Tagesordnung. Nett? Höflich? Witzig? Auf Grindr scheinbar irrelevant. Das Interesse am Individuum schwindet und der Körper, die sexuelle Ware, ist meist oberste Priorität. Ist das im Nacktfoto-Album, welches man auf einmalige Ansicht schalten und immer wieder schicken kann, gesendete Dick-Pic nicht entsprechend, wird man häufig ignoriert. Ist der Bauch nicht flach oder die Brust nicht breit genug, wird man ignoriert. Was auf Grindr wie ein harmloser Chat beginnt, folgt oft einem starren Sexual Script: Bist du Top oder Bottom? Dom oder Sub? Die Sexualität wird durchgetaktet und das Individuum verliert sich – eine moderne Variante dessen, was Soziolog*innen wie Eva Illouz als Objektifizierung bezeichnen. Ideale sind gefragt, stereotypisch maskuline Superlative, die häufig heteronormative Körper‑ und Geschlechterideale mittels einer performativen Körperinszenierung in queere Räume tragen.
Wer keinen flachen oder muskulösen Körper oder einen langen Penis hat, wird also systematisch abgewertet. Diese Oberflächlichkeit fängt bei der Sexualisierung an und mündet bei vielen in Selbstzweifeln und Gefühlen, nicht genug oder falsch zu sein. Grindr zeigt, wie sehr Körper zur Ware werden und wie kritisch ihre Käufer geworden sind. Meist trifft man sich, hat Sex und verabschiedet sich. Diese sexualisierenden Muster queeren Daseins auf Grindr sind oft Resultat jahrelanger Ablehnung, Abwertung und Suche nach Akzeptanz. Der Wunsch nach Sex und Spaß ist nie verwerflich, allerdings ist Grindr ein Ort, an dem sich jene Suche schnell selbstzerstörerisch transformieren kann und der somit heteronormative, sexualisierende und patriarchale Strukturen reproduziert.
Wenn Selbstwert zur Währung wird
Die Studie „The influence of Grindr, a geosocial networking application, on body image in gay, bisexual and other men who have sex with men: An exploratory study“, die von vier Wissenschaftler*innen der University of Waterloo durchgeführt wurde, zeigt, dass männlich gelesene Grindr-Nutzer sich häufiger mit anderen vergleichen und sich dadurch wertlos fühlen – vor allem, wenn sie nicht dem scheinbar benötigtem Idealbild entsprechen. Auch zahlreiche andere Studien zeigen die psychosozialen Folgen von Grindr-Nutzung – und sind sich einig: Grindr fördert sexuelle Objektifizierung, eigene und fremde Stigmatisierung des Gewichts, vergleichsbasierte Selbstbewertung, Gefahren von Essstörungen und ein niedriges psychisches und soziales Wohlbefinden, welches auch lange meinen Freund plagte. Bei manchen Dates wusste er gar nicht mehr, ob er überhaupt Lust gehabt hat oder nur Angst, wertlos zu sein, wenn er absagt. Er erzählt weiter: „Natürlich war ja auch nicht alles schlecht, aber das macht es irgendwie schwerer, sich davon zu lösen, weil es mir auch so viel gegeben hat.“
Die Soziologin Eva Illouz erklärt im ARTE-Interview „Eva Illouz, glauben wir noch an die Liebe?“ den Zusammenhang von Liebe und Sexualität mit der gegenwärtigen Ökonomie. Man begegne sich heutzutage wie in einem neokapitalistischen Markt, auf dem es um Angebot und Nachfrage gehe. In ihrem Buch „Was ist sexuelles Kapital?“ erläutert sie den Begriff des sexuellen Kapitals, der die Fähigkeit beschreibt, aus sexuellen Begegnungen Selbstwert zu beziehen und diesen Selbstwert in andere sexuelle Begegnungen zu stecken. Manche Personen hätten auf diesem sexuellen Markt viel Kapital, andere weniger, womit, laut Illouz, auch der Selbstwert stark von der sexuellen Bestätigung abhängig ist. Grindr ist eine App, auf welche diese Theorie genau zutrifft, nur leider mit dem Gegensatz, dass Liebe oder Emotionalität meist kein Teil des Marktes sind, sondern nur der Körper, das Aussehen, die Länge und Breite. Auch mein Freund erzählt mir, dass sich manche Dates so anfühlten wie ein Geschäftstreffen. Man traf sich und erfüllte seine Dienstleistung, dann ging man und ein komisches Gefühl blieb übrig: „Mir fällt es schwer, das zu beschreiben, irgendwie habe ich das, was ich wollte, aber das, was ich will, ist irgendwie nicht das, was ich wirklich will.“
Somit wird das sexuelle Kapital aufgewertet, während sich der Selbstwert weiter vom Selbst entfernt und in Zahlen und Momenten auffängt.
Wieso Grindr so gut funktioniert
Das macht es auch so erschreckend, dass Grindr seit 2009 die meistgenutzte queere Dating-App weltweit ist. Doch wieso wird ausgerechnet eine App, die vielen Nutzern nachhaltig schadet, so aktiv genutzt? Die Antwort ist gleichermaßen traurig wie offensichtlich: Queere Sozialisation ist immer auch Sozialisation, die mit Ablehnung verbunden ist. Homophobie, Verurteilung durch Familie und Freund*innen, Mobbing, emotionale und physische Gewalt sind Erfahrungen, die viele queere Menschen aushalten mussten, weshalb man lernen musste, sich durch eine scheinbar gefährliche Welt zu manövrieren und in dieser Welt Halt und Sicherheit zu finden. Und Grindr gibt häufig eben genau das: Den Schein einer Sicherheit in Normen, Mustern, Anonymität und Bestätigung auf einer App, die der Sexualität den Raum gibt, den sie nie hatte, weil man sie häufig nie zeigen konnte. Diese Muster reproduzieren alte Verletzungen, die nicht individuell gewollt, aber systematisch eingeübt sind. Grindr ist nicht die Ursache, aber das Symptom einer homosexuellen Verletztheit, die Körper zu Währungen und Nähe zu Zahlen macht.
Wir reden noch eine ganze Weile darüber, wie leicht es ist, in ein System zu rutschen, das dir sagt, du seist nur so viel wert wie dein Körper. Nicht weil du naiv bist, sondern weil du gelernt hast, dass Sichtbarkeit und Selbstliebe an Bedingungen geknüpft sind und das ist das Problem: Die gesellschaftliche Sozialisation von queeren Menschen und wie schnell Personen wie er, ich und viele andere sich darin verlieren und vergessen können.
Als ich ihn beim Verabschieden frage, ob er jetzt erstmal eine Pause von Typen mache, zuckt er mit den Schultern: „Ich hab kein Problem mit Typen. Ich hab ein Problem damit, dass meine Erfahrungen mich dazu gebracht haben, mich immer inszenieren zu müssen, um angenommen zu werden. Ich werd mich weiter mit Typen treffen, aber nicht, wenn immer die Frage kommt, ob ich noch Pics habe.“
art by @jey_pi.