Wenn das Laub von den Bäumen fällt und der Regen gegen die Fensterscheiben klopft, ist es vielleicht mal wieder Zeit, ein (gutes) Buch in die Hand zu nehmen. In diesem Artikel präsentiert euch die UnAuf-Redaktion ihre Tipps für eine gute Herbstlektüre.
Intermezzo von Sally Rooney
Ein verregnetes Dublin, das ist der Schauplatz von Sally Rooneys viertem Roman, Intermezzo. Hier erzählt sie die Geschichte der Brüder Peter und Ivan, die nach dem Tod ihres Vaters ihr Leben, vor allem aber die Beziehung zueinander neu ordnen müssen. Während der etwa 30-jährige Peter erfolgreich als Anwalt arbeitet, hangelt sich der 22-jährige Ivan von Freelance Job zu Freelance Job und versucht nebenbei seine etwas angestaubte Schachkarriere wieder in Schwung zu bringen. Auf einem Schachevent lernt er schließlich die 36-jährige Margret kennen und verliebt sich in sie. Als er seinem Bruder von der Beziehung erzählt, kommt es zum Bruch. Denn Peter findet diese Konstellation reichlich schräg: dabei datet er selbst gerade die deutlich jüngere Studentin Naomi. Außerdem ist da auch noch seine Jugendliebe Sylvia –und natürlich seine unverarbeitete Trauer, die er mit Sex, Alkohol und Medikamenten zu betäuben versucht.
Intermezzo braucht ein bisschen, bis es zündet. Vor allem, weil sich die Kapitel aus Peters Sicht zu Beginn eher mühsam lesen lassen. Wer dranbleibt, der bekommt aber, wie von Rooney gewohnt, einen Text voller komplexer Beziehungen und existenzieller Fragen.
Intermezzo von Sally Rooney (2024) Faber & Faber
Der Absturz von Édouard Louis
Das voraussichtlich letzte Buch der Familiensaga von Édouard Louis erzählt von seinem älteren Bruder, der mit 38 Jahren verstarb. „Ich habe meinen Bruder oft gehasst, aber ich muss ihn verstehen“, erklärte Louis beim internationalen Literaturfestival in Berlin.
Eine Mischung aus autobiografischer Erzählung, intimen Recherchen sowie psychologischen und politischen Analysen zeichnet das Buch. Es erzählt die Geschichte eines alkoholkranken Mannes, dessen zu große Träume ihn zerstörten. Handeln, Sein, Lebenserwartungen und -entscheidungen sind bestimmt durch die sozialen Klassen. Die Übereinstimmung von sozialer Klasse und Lebensrealität dient letztendlich dem Selbsterhalt. Im Falle von Louis Bruder hat dieser Mechanismus nicht funktioniert. Die fehlende Adaption, das Greifen nach Träumen, die verhöhnt und zerschmettert wurden, zwangen ihn in die Knie. Der soziale Determinismus hat ihm versagt.
Louis blickt aus unterschiedlichen Zeitpunkten auf das Leben seines Bruders zurück. Aufgrund ihrer gestörten Beziehung bestand lange Zeit kein Kontakt. Diese Leerstellen wurden durch Recherchen aufgearbeitet. Teils gefüllt, teils bewusst offengelassen. Der Absturz ist ein ehrlicher Blick auf stigmatisierte Familiendynamiken. Zwischen den Zeilen scheinen Hass, Wut und Abscheu auf den Bruder durch – aber auch Mitleid und das Bedürfnis, ihn zu verstehen.
In Louis’ Freundeskreisen löste das Buch Kontroversen aus. Ist es angemessen, über Tote zu schreiben? Sie kritisierten seine Entscheidung, da es respektlos und makaber wirkt, insbesondere bei einer so schwierigen Beziehung. Vor allem seine Schwester beengte ihn mit aktiven Drohungen, sollte er das Buch veröffentlichen. Doch der Autor zielt gerade darauf ab, soziale Konventionen zu brechen, worüber und wie gesprochen werden darf. Louis sagt, es geht nicht darum, seinen Brüder zu demütigen, zu entwürdigen oder seinem persönlichen Hass freien Lauf zu lassen. Sondern dieses Buch zu schreiben ist die größte Form von Respekt an seinen Bruder – die Wahrheit seines Seins.
Der Absturz von Édouard Louis (2025) Aufbau
Kairos von Jenny Erpenbeck
2024 gewann Jenny Erpenbeck mit Kairos den International Booker Prize. In dem Buch schreibt sie von der skandalösen Affäre des 34 Jahre älteren Hans mit der jungen Schönheit Katharina. Die Handlung spielt hauptsächlich in der DDR Ende der 80er Jahre. Hans ist ein verbissener Autor mit Hang zum Narzissmus, Katharina ist unerfahren und sucht eine Vaterfigur. Ein Match made in heaven.
Was sich in Zusammenfassungen wie ein kitschiger Liebesroman liest, entpuppt sich als scharfe Beobachtung zweier symbolträchtiger Figuren. Die Erzählweise wirkt zufällig, ständig springt die Perspektive von der einen Figur zur anderen. Einmal geht es um Katharina, die mit ihrer besten Freundin durch Prag spaziert. Dann wieder um Hans, der mit seiner Familie an der Ostseeküste Urlaub macht. Katharina zu Besuch in Westdeutschland, Hans aus seiner Kindheit in der HJ. Der Clou ist: Man muss alles gleichzeitig denken. West- und Ostdeutschland, den zweiten Weltkrieg und die Wende, die junge Frau und den alten Mann. Nur dann könne man verstehen. Wer ist Hans, wer ist Katharina?
Ein Kriegskind geht eine Beziehung mit einer neuen Generation in der DDR ein. Die Beziehung scheitert und der Tod, das Kriegskind stirbt. In Kairos erleben wir das Schicksal eines Generationenkonflikts in Ostdeutschland, über den wir noch nichts Vergleichbares gelesen haben. Und nur, wenn wir alle Zeiten und Perspektiven zusammendenken, verstehen wir ihn.
Kairos von Jenny Erpenbeck (2021) Penguin Verlag
The Shards von Bret Easton Ellis
Das neueste Buch des skandalträchtigen, amerikanischen Autoren Bret Easton Ellis – u.a. verantwortlich für American Psycho und Less than Zero – versetzt den Leser in das Los Angeles des Jahres 1981 zurück. Der Hauptcharakter ist hierbei der Autor selbst, welcher über die Ereignisse seines letztes Jahres an der prestigeträchtigen Buckley School sinniert. Zwei Handlungsebenen werden hierbei etabliert: die des Erzählers in der Gegenwart sowie die Rekonstruktion des Jahres 1981. Da nie vollkommen klar wird, welche Elemente auf wahren Begebenheiten beruhen und welche frei erfunden sind, wird das Werk von Kritikern häufig als „fiktionalisierte Memoiren“ bezeichnet.
Ellis erzählt hierin vom ziellosen, nächtlichen Herumfahren im Sportwagen seiner Eltern durch das San Fernando Valley sowie von ausschweifenden Drogenexzessen in den Anwesen seiner absurd wohlhabenden Klassenkameraden. Das Versteckspiel mit der Homosexualität des Autors wird ebenso thematisiert, wobei The Shards das erste Buch von Ellis ist, in dem er diese offen anspricht. Ein Großteil der Handlung beschäftigt sich allerdings mit der allgegenwärtigen Gefahr des sagenumwobenen „Trawlers“, einem Serienmörder, welcher Bret und seiner Freundesgruppe immer näher zu kommen scheint.
Das Besondere an The Shards ist weder die Handlung noch die Schreibweise; beides ist nicht sonderlich originell oder ausgeklügelt. Hervorragend ist das mit akribischer Präzision eingefangene Lebensgefühl der beschriebenen Zeitperiode. Ellis vermag es wie kaum ein anderer Autor, die seelische Leere einer desillusionierten und scheinbar dauerberauschten Oberschicht greifbar zu machen. Die unreflektierte, sachliche Beschreibung von aberwitzigen Ereignissen in der Welt der Reichen kreiert einen kalten, aber dennoch beunruhigend-faszinierenden Charme.
The Shards von Bret Easton Ellis (2023) Kiepenheuer & Witsch
Piksi-Buch von Barbi Marković
Anders als der Titel vermuten lässt, handelt es sich bei dem dünnen Büchlein nicht um eine Kindergeschichte, sondern um eine autofiktionale Erzählung, die uns ins Belgrad der späten 80er Jahre führt. Piksi ist der Spitzname von Dragan Stojković, dem besten jugoslawischen Fußballer der damaligen Zeit.
Barbi Marković wird von ihrem fußballbegeisterten Vater, Slobodan Marković, gezwungen, die Wochenenden bei großer Hitze auf Fußballplätzen zu verbringen. Passend dazu ist das Buch teils satirisch im Stile einer Sportreportage geschrieben und lässt sich in der Dauer eines Fußballspiels, 90 Minuten plus Nachspielzeit, weglesen. Immer wieder werden im Sportjournalismus verwendete Phrasen und Metaphern poetisch ins Lächerliche gezogen und die dargestellte Vater-Tochter-Beziehung macht die Lektüre auch für weniger fußballinteressierte Leser*innen interessant. Das Buch endet mit der Schilderung zweier Fußballspiele, die als Symptom für den sich ankündigenden Zerfall Jugoslawiens angesehen werden können und die dunkle Seite des unter Fußballfans verbreiteten Fanatismus und Gemeinschaftsethos aufzeigen.
Marković’s Spiel mit literarischen und journalistischen Genres verleiht der Erzählung trotz inhaltlicher Schwere eine Leichtigkeit, die die Ernsthaftigkeit der behandelten Themen nicht untergräbt und die Leser*innen vortrefflich unterhält. Um es mit den Worten der Autorin zu formulieren: „Ich hasse Fußball“
Piksi-Buch von Barbi Marković (2024) Voland & Quist
Striker von Helene Hegemann
Wie schon in ihrem Debütroman Axolotl Roadkill, bringt Helene Hegemann auch mit ihrem neuen Werk Striker ein schonungsloses Berlin zwischen die Buchdeckel.
Vor der Wohnungstür der Protagonistin N lebt sich eine Wohnungslose ein und lässt N über neue und alte Fragen der Identität und Sicherheit nachdenken. N stolpert zwischen Alltag, humanitärer Solidarität und eigenen Vorurteilen. Dabei gerät nicht nur ihr psychischer Zustand auf Abwege, sondern auch ihre Karriere als Boxerin und ihre Affäre zu einer Politikerin. Eine Begleiterscheinung ihrer Suche sind dabei die spirituellen Graffitis von Striker, die auf einmal überall zu sein scheinen.
Auch zum Berliner Leseprozess von Striker gehört das Ausschau halten nach den blau-roten Symbolen an Hauswänden, allerdings gemalt von dem realen Künstler Paradox Paradise, der Hegemann als Inspiration diente. Sein Aufruf, das dritte Auge zu öffnen, gilt nicht (nur) dem Spirituellen, sondern auch der Suche nach dem Übersehenen in einer Großstadt. In Striker öffnet sich ein Spannungsfeld von Menschlichkeit und Grenzüberschreitung, Mitgefühl und Ekel. Hegemanns Werk lebt von ihrem abgehackten In-die-Fresse-Schreibstil, der Plot ist eher eine Nebenwirkung.
Striker von Helene Hegemann (2025) Kiepenheuer & Witsch
Crying in H Mart von Michelle Zauner
Nicht auf dem Friedhof kommen Michelle die Tränen, sondern im H-Mart. Ausgerechnet zwischen den Banchan-Kühlschränken und Ramen-Regalen des Asiamarkts muss sie an ihre verstorbene Mutter denken; an die koreanischen marinierten Eier, die kalte Rettichsuppe und die Teigtaschen, die in ihrer Kindheit immer liebevoll zubereitet auf dem Tisch standen. Denn: „Mit Essen drückte meine Mutter ihre Liebe aus.“
In ihrer Autobiografie lässt die Musikerin Michelle Zauner ihre rebellische Jugend Revue passieren, die vielen Streitereien im Elternhaus, die Abnabelung von ihrer koreanischen Herkunft. Und wie die Krebsdiagnose ihrer Mutter sie dazu zwingt, diese Identität infrage zu stellen. Es sind die Gerichte, die sie mit ihrer Umma geteilt hat und nun zum ersten Mal selbst zubereitet – Miyeokguk, Doenjang Jjigae, Jatjuk – die ihr helfen, nicht nur sich selbst wiederzufinden, sondern auch die drakonische und bedingungslose Liebe ihrer Mutter zu verstehen. Zauners Weg durch die Trauer und ihre Suche nach einer Verbindung zu ihren koreanischen Wurzeln ist berührend, schonungslos, ehrlich – und doch auch tröstlich.
Crying in H Mart von Michelle Zauner (2021) Alfred A. Knopf
Foto: Nino Maghradze







