
Wer für die nächste Klausur eine Nachtschicht einlegen muss, der ist inzwischen nicht mehr auf den Schreibtisch angewiesen, denn in der gemeinsamen Bibliothek der Technischen Universität und der Universität der Künste herrscht seit Anfang Mai Dauerbetrieb. Unsere Autorin ist für uns (fast) wach geblieben.
Ich hatte auch schon einmal bessere Ideen, denke ich, als ich an diesem Samstagabend vor dem quaderförmigen Gebäude stehe, in dem sich die gemeinsame Bibliothek der Technischen Universität Berlin und der Universität der Künste befindet. Vor ihr tummeln sich eine Hand voll Student*innen, die sich angeregt unterhalten oder grüblerisch an ihren selbstgedrehten Kippen ziehen. Ob sie wohl auch geplant haben, die ganze Nacht in der Bib zu bleiben? Vermutlich eher nicht. An sich wäre es aber durchaus möglich. Denn seit dem 4. Mai ist die Bibliothek, die sich in der Nähe des Bahnhof Zoo befindet, eine 24h-Stunden-Bibliothek. Das heißt: Mit Ausnahme von einer Handvoll Feiertagen herrscht hier dauerhaft Betrieb. Ein Pilotprojekt, das eigentlich bereits im Januar beginnen sollte – und dessen Start aufgrund der verzögerten Haushaltsplanung erst auf den April und dann schließlich auf den Mai verschoben werden musste. In einem Statement des Berliner Senats heißt es, man wolle Student*innen die Möglichkeit eröffnen, jederzeit auf relevante Literatur sowie auf das Internet zuzugreifen. Mit dem Projekt sollen vor allem diejenigen unterstützt werden, die über keinen ruhigen Arbeitsplatz verfügen oder durch Berufstätigkeit oder Familie so stark eingespannt sind, dass sie es nicht zu regulären Zeiten in die Bibliothek schaffen.
So voraussetzungslos wie es klingt, ist es dann aber doch nicht. Wer nicht an der TU oder der UDK studiert, der braucht zum nächtlichen Verweilen nämlich erst einmal einen Bibliotheksausweis. Der ist zwar kostenlos und in unter fünf Minuten ausgestellt, das geht aber nur, wenn der Schalter gerade von Mitarbeiter*innen besetzt ist. Wer also als Student*in der Humboldt-Universität mitten in der Nacht beschließt, in der Bib einen Lernmarathon einzulegen, der hat leider schlechte Karten. Weil ich mich vorab am Telefon informiert und der Bib deshalb bereits gegen Mittag einen ersten Besuch abgestattet habe, habe ich zum Glück keine Probleme. Mit meinem brandneuen Ausweis und einer Flasche Mate bewaffnet wage ich mich in den mir bislang eher unbekannten Gebäudekomplex. Für einen Samstagabend außerhalb der Klausurenphase ist er relativ gut besucht. Neben fleißigen Student*innen ist auch der beziehungsweise die ein oder andere Rentner*in dabei, der oder die durch die ausgelegten Tageszeitungen stöbert. Ich suche mir einen Platz mit freiem Blick auf die Treppen. Im obersten Stock steht eine düster wirkende Skulptur aus Metall, Stein und Drähten. Schon jetzt wirkt sie auf mich ein bisschen bedrohlich. Wie das erst sein wird, wenn es dunkel wird?
Noch während ich mich einrichte, macht eine Lautsprecheransage auf die Öffnungszeiten beziehungsweise auf den Nachtbetrieb aufmerksam. Der läuft von zehn Uhr abends bis acht Uhr morgens. Währenddessen muss der Bibliotheksausweis gut sichtbar auf dem Tisch platziert werden. Wer diesen nicht vorweisen kann, wird vom Sicherheitspersonal vor die Tür gesetzt. Bis jemandem ein solches Schicksal blühen könnte, ist aktuell aber noch reichlich Zeit. Gerade ist es schließlich erst 18 Uhr. Wenn ich schon einmal hier bin, dann kann ich wohl auch arbeiten, denke ich, zum Beispiel indem ich mich an die Präsentation für den Französischunterricht setze. Die nimmt mich so sehr ein, dass ich zwischendurch den eigentlichen Grund für mein Kommen – nämlich diesen Text – vollkommen vergesse.
Deshalb: Zeitsprung! Um halb zehn ist in der Bibliothek noch einiges los. Ich höre eifriges Stühlerücken und sehe Menschen durch die Gänge laufen. Kaum beginnt der Nachtbetrieb, machen sich die meisten auch schon auf den Weg nach Hause. Meine letzte Tischgenossin räumt das Feld. Zum Glück kann ich zwischen den Bücherregalen noch einige andere Menschen erspähen. Sonst fände ich es inzwischen schon etwas unheimlich, ganz alleine in diesem großen Gebäude. Schräg gegenüber von mir hat jemand seine Schuhe ausgezogen und legt die Füße auf den Tisch. Seine Socken sind himmelblau und sehen flauschig aus. Vielleicht macht er es sich für eine lange Nacht gemütlich.
Gegen 22:10 Uhr bekomme ich dann auch das erste Mal Besuch von einem Mitarbeiter des Sicherheitspersonals. Freundlich nickend lässt er sich von uns Student*innen die Ausweise präsentieren und wünscht uns anschließend viel Spaß. Ich werde ihn an diesem Abend noch öfter durch die Flure huschen sehen, den prüfenden Blick auf unsere Ausweise und unsere Getränkebehälter gerichtet – schließlich sind offene Flaschen, Becher und Dosen in der Bibliothek strengstens verboten. Aber nicht nur er wacht über uns. Auch die bereits erwähnte Statue sieht aus der Entfernung ein bisschen so aus, als würde sie auf uns herunterschauen. Zu meiner Überraschung strömen noch immer einige Besucher*innen in die Bibliothek, zwei von ihnen haben sogar einen der Gruppenarbeitsräume auf meinem Stockwerk gebucht (oder beziehen ihn zumindest auch ohne Buchung). Ambitioniert würde ich sagen!
Inzwischen ist es kurz nach Mitternacht. Draußen brüllen Fußballfans. Drinnen ist es ganz still. Nur die Deckenbeleuchtung surrt. Ab und an hört man jemanden die Treppe hinuntergehen und die Bibliothek verlassen. In dem leeren Gebäude hallt jeder Schritt. Eine Person klingt auf einmal nach zehn Personen. Höchste Zeit für eine Ortskontrollfahrt – oder Ortskontrollgang in diesem Fall. Tatsächlich zähle ich alleine auf meinem Stockwerk noch neun Personen. Das Gefühl, so spät noch in der Bibliothek zu sein, ist irgendwie eerie, irgendwie kickt aber auch der Gottkomplex, weil man hier schließlich außerordentlich produktiv ist, während andere feiern oder schlafen. Wobei sowohl feiern, als auch schlafen eigentlich das nettere Samstagabendprogramm wäre.
Spätestens gegen drei Uhr morgens ist es mit dem Gottkomplex dann aber auch vorbei. Mir wird schwummrig müde. Bourdieus ohnehin nicht ganz so einfachen Sätze verschwimmen zunehmend vor meinen Augen. Dagegen kommt auch keine Mate mehr an. Ich lasse den Kopf auf die Tischplatte sinken. Mit meinem kleinen Schläfchen bin ich in bester Gesellschaft. Auch an anderen Tischen haben sich Student*innen inzwischen der Müdigkeit ergeben.
Als ich wieder wach werde, ist es fast schon fünf Uhr. Der Mann mit den himmelblauen Socken ist verschwunden, draußen ist die Sonne wieder aufgegangen und ich beschließe, dass ich genug habe. Höchste Zeit den harten Holzstuhl gegen mein kuscheliges Bett einzutauschen. Auf meinem Rückweg sehe ich noch drei Student*innen – zwei davon munter, einer tief im Schlaf versunken. Womit ich bei einem Fazit wäre. Eine Nacht in der Bib kann durchaus produktiv sein. Spätestens ab drei Uhr kann man dann aber vielleicht auch einfach mal nach Hause gehen.
Foto: Felicitas Hohmann