Dystopien über Gesundheit, Kontrolle und Einheit gibt es wie Sand am Meer. Am 11. Juli hat die Theater-AG der Charité ihr selbstgeschriebenes Stück „Newtopia“ uraufgeführt. Reizvoll, wenn man bedenkt, dass in dieser Dystopie 20 angehende Ärzt*innen auf der Bühne stehen.
Am 11. Juli hat die Theater-AG der Charité unter Regie von Anna Bärtele einen Vorlesungssaal in eine Zeitmaschine verwandelt. Im Jahr 2336 feiert Newtopia hier seinen 200. Geburtstag.
Nachdem die Menschheit gemerkt hat, wie ungerecht die Welt ist, hat sie ganz einfach eine gerechte erschaffen. Hier hat jede*r tägliche Kalorienportionen, die hauptsächlich mit Haferschleim gefüllt werden. Alle müssen nur einen Tag in der Woche arbeiten. Für den Rest gibt es Androiden, menschenähnliche Roboter ohne Gefühle.
Mit einem sogenannten „Mind me“ imaginieren dunkel verkleidete Figuren auf der rechten Hälfte der Bühne die linke Hälfte, auf der dann eine Art kreativer Workspace entsteht. Das nennen die Figuren „Gedankenprojektion“.
Hier kann man seinen extravagant gekleideten Avatar tanzen lassen, meditieren oder die Jubiläumsfeier von Newtopia vorbereiten. Letzteres fällt in den Aufgabenbereich von Newt, der Protagonistin – gespielt von Lea Krusche. Sie darf demonstrativ in ihrem „Mind me“ einen Zeitreisenden aus dem Jahr 2080 erscheinen lassen, der die neue Welt bewundert. Die versammelte Gemeinschaft soll dabei zusehen.
Wie in den meisten Dystopien, kippt die augenscheinliche Utopie aber schnell. Erst neigt sich das Leben Newts Großvaters dem Ende zu. In Newtopia darf man nur 68 Jahre alt werden. Newt soll plötzlich schwanger werden, denn das gibt der Staat so vor. Als dann auch noch die Beziehung von Newt und ihrer Freundin Ari ins Wanken gerät, beginnt der Kampf nach kritischem Denken und Freiheit in einer Welt voller Gesundheit und Gerechtigkeit.
Das Drama erzählt nichts Neues. Bei Dystopien denkt man natürlich sofort an George Orwells „1984“ oder Juli Zehs Versuch mit „Corpus Delicti“. Und ehrlich gesagt: Schon hier haben sich die Schwächen gezeigt, die dystopisches Erzählen birgt. Es drohen eindimensionale Figuren, die didaktisch zeigen, wer die Guten und wer die Bösen sind. Die Guten decken auf, warum die perfekte Welt nicht perfekt ist, die Bösen versuchen das zu verhindern. Die Guten sind meist rebellisch und bemitleidenswert. Warum die Bösen an der erkennbar fehlerhaften Welt festhalten, lösen Dystopien selten auf.
Natürlich gibt es Ausnahmen, die hervorstechen. Zu solchen Ausnahmen zählt das bereits erwähnte „1984“. Hier ist der Protagonist zwar am Anfang noch rebellisch und bemitleidenswert, der Staat bricht ihn aber, woraufhin er sogar seine Geliebte verrät. Der Roman strotzt vor Konflikten, kognitiven Dissonanzen und Fragen an die Zukunft.
Etwas Vergleichbares bietet der Abend an der Charité nicht.
Spannend ist hier etwas ganz anderes. Genau wie in Juli Zehs „Corpus Delicti“ beruht „Newtopia“ auf dem Prinzip der Selbstoptimierung. Auf Sport und Ernährung wird ganz genau geachtet. Der Staat vergibt Codes als Namen, um Daten besser einordnen zu können. Klar, so ein durchgetaktetes Leben kann ja niemand wollen. Doch dass das Medizin-Student*innen genauso sehen? Das Ziel eines Medizinstudiums ist ja wohl kaum eine ungesündere Welt. Eine Antwort bleibt aus, die braucht es aber auch nicht.
Hinterfragt das Publikum nach der dreistündigen Inszenierung mit Pause seine Weltanschauung? Nein. Sind das die Anforderung an eine Theater-AG der Charité? Auch nein.
Das Stück bleibt durch Witz unterhaltsam und stellt zumindest kleinere Fragen. Wenn man denn fragen möchte.
Plakat von Tilman von Specht.