Die Ergebnisse der Mitte-Studie 2023 und die Correctiv-Recherche im Januar 2024 offenbaren den Rechtsextremismus in Deutschland erneut – begleitet von akuten Wellen des Aufschreis. Der Hass dürfte nicht überraschen, denn er hat sich längst in der Mitte der Gesellschaft festgesetzt. Im Interview mit zwei Expert*innen in den Bereichen politische Bildung und Konfliktforschung.

Sabine Achour überlegt, bevor sie versucht, die Bevölkerungsgruppe zu definieren. Das Milieu der „Hassbürger*innen” ist wissenschaftlich noch nicht wirklich greifbar. Die Grenzen zwischen soziokulturellen Bevölkerungsgruppen und politischen Positionen verschwimmen dabei – sie reichen von unzufriedenen Pöbler*innen bis hin zu demokratiefeindlichen Rechtsextremen. In gesellschaftlichen Diskursen wird die Bezeichnung aus der Not heraus verwendet, das zunehmend hasserfüllte Klima in Deutschland fassen zu können. 

Welche Personen als Hassbürger*innen gelten, sei schwer zu bestimmen, jedoch eine sie eine intensive Feindlichkeit gegenüber marginalisierten Gruppen, sagt Achour. Sie ist Professorin für Politikdidaktik und Politische Bildung am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der FU Berlin, außerdem Autorin der Mitte-Studie. Diese wird alle zwei Jahre von der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführt, um Auskunft über die Entwicklung rechtsextremer, menschenfeindlicher und antidemokratischer Einstellungen der gesellschaftlichen Mitte zu geben. 

Aus der Studie des Jahres 2022/23 geht eindeutig hervor: Jede*r zwölfte Erwachsene in Deutschland teilt ein klar rechtsextremes Weltbild, das sind acht Prozent. Achour betont, dass die Zahl derjenigen, die dieses ebenfalls zumindest in Teilen vertritt, bei mindestens 20 Prozent liege. Solche Personen unter dem Begriff „Hassbürger*innen” zu fassen kann problematisch sein. Denn wer Aussagen unterstützt oder tätigt, die eine Diktatur befürworten, den Nationalsozialismus verharmlosen, antisemitisch, oder rassistisch sind, muss dementsprechend benannt werden. 

Lieber hassen, statt weiter warten

Auf die Frage, woher der Anstieg rechtsextremer, rassistischer Ansichten komme, antwortet Dr. Jannis Grimm ohne zu zögern: Es sei die Überforderung, die aus den multiplen ineinandergreifenden Krisen resultiere. Als Leiter der Nachwuchsgruppe Radikale Räume / Radical Spaces” am Berliner Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung beschäftigt er sich auch mit Hass und Gewalt in Bezug auf politischen Protest. Auf radikale Veränderung aufgrund von Corona, Inflation und Klimakrise folge kein radikaler Politikwechsel, viele fühlen sich mit unzähligen unbeantworteten Fragen alleine gelassen. Wahrgenommenes Leid werde zu Trauer, zu Wut und letztlich zu Hass, sobald Individuen beginnen, ihre reflexartigen Emotionen zu rationalisieren. Dafür brauche es ein Angebot bestehender narrativer Strukturen, die Orientierung bieten. Aktuell seien das in Deutschland überwiegend die Diskurse und Bildsprache der Neuen Rechten und auch einzelner Politiker*innen, allen voran denen der AfD. In gewisser Weise herrsche damit eine enorme Repolitisierung in Richtung des rechten Spektrums. 

Reaktionäre Kräfte leisten Hass dabei starken Vorschub: Häufig folge ihre rassistische Argumentation einer rechtsextremen Blut- und Bodenideologie, so Grimm.

Eine soziale Grenzziehung, basierend auf nationaler Identität, die sich durch biologische Abstammung und Bindung an physisches Land definiert, erleichtere es enorm, in Wir“ und Die Anderen” zu teilen – und auf diese Weise allen Hass auf einen symbolischen Antagonisten zu projizieren. 

Laut Grimm sind das zunehmend auch einzelne Politiker*innen: Im Prinzip werden sie zu Figuren ihrer selbst gemacht und dadurch als Projektionsfläche genutzt.“ Doch diese Fokussierung auf Einzelfiguren bietet Potenzial für die Akzeptanz von Gewalt. Statt den fünf Prozent im Jahre 2020/21 sind es in der letzten Mitte-Studie 13 Prozent der Befragten, die der Meinung sind, einige Politiker*innen hätten es verdient, wenn die Wut gegen sie in Gewalt umschläge. Grimm betont dabei, dass das nicht mit einer erhöhten Gewaltbereitschaft der gesellschaftlichen Mitte gleichzusetzen sei, allerdings zeige sich eine gefährliche Tendenz. Denn Denkweisen, die Gewalt als mögliches politisches Mittel tolerieren, bereiten den Weg dafür, dass Menschen sie als tatsächliche Handlungsmöglichkeit wahrnehmen.  

Defekte Diskussionskultur

Hass als gesellschaftsfähige Grundeinstellung und die damit einhergehende gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist zunehmend normalisiert. Das zeichnet sich vor allem in der sinkenden Hemmschwelle ab, rassistische, sozialdarwinistische und antisemitische Ansichten öffentlich zu äußern. Auch in den Telefonbefragungen zur Mitte-Studie 2022/23 ist Sabine Achour aufgefallen, dass deutlich mehr Personen, den Moment genutzt haben, all ihren Hass auf Politiker*innen und Wissenschaftler*innen abzuladen. Das ist sehr ungewöhnlich, bisher war es den Befragten wichtig, nicht unangenehm aufzufallen.” Verantwortlich für diese Entwicklung sei vor allem die Diskurskultur der sozialen Medien. Im digitalen Raum fehle die konstruktive, kompromissorientierte Auseinandersetzung, die notwendig sei, um gemeinsame Antworten auf, beispielsweise, die sozialökologische Transformation zu finden, vor der wir stehen. Laut Jannis Grimm fördert die Anonymität und Bewegungsfreiheit im Netz zusätzlich die Dehumanisierung von Einzelpersonen oder marginalisierten Gruppen. 

Trotz dieser Tendenzen ist es überraschend, dass vor allem Befragte der letzten Mitte-Studie im Alter von 18 bis 34 rechtsextreme Ansichten teilen. Eine Erklärung könnte neben den Dynamiken der sozialen Medien auch in der Wirkweise der Ausbreitung rechter Kräfte liegen. Grimm beschreibt sie metaphorisch als viele kleine Samen, die in die Mitte der Gesellschaft, überall dort, wo Hilfe gebraucht werde, gepflanzt werden und dann zu organischen Strukturen erwachsen: in Sportvereinen, als Nachhilfelehrer*in, bei Bürokratiebeschwerden. 

Förderung, Begegnung, Durchmischung

Ebendiese Graswurzelarbeit, also die politische Arbeit auf lokaler, gemeinschaftlicher Ebene, braucht es nun von progressiven Kräften als Gegengewicht. Das ist nicht einfach und erfordert enormes Engagement, das jedoch bereits von etlichen jungen, zum Teil migrantischen Initiativen vor Ort geleistet wird, die marginalisierten Stimmen Gehör verschaffen. Es braucht laut Sabine Achour vor allem für diese selbstorganisierten Gruppen mehr finanzielle Unterstützung, anstatt sich nur auf Präventionsprogramme zu fokussieren, die, lapidar gesagt, versuchen potenzielle Nazis zu Demokraten zu machen”. 

Jannis Grimm betont auch die Bedeutung aktiver sozialer Durchmischung und vielfältiger Identifikationsfiguren. Denn wer im Alltag mit ethnisch und kulturell verschiedenen Menschen in Kontakt kommt, ist deutlich weniger bereit, Individuen als Vertreter*innen einer ganzen Gruppe zu sehen und Stereotype auf sie zu übertragen. Ein Paradebeispiel sei hier in Berlin nach wie vor der Stadtteil Kreuzberg. Hier treffen verschiedenste Bürger*innen aufeinander, das sorgt für Austausch und die Befürwortung progressiver politischer Kräfte. Dabei braucht es vor allem für junge Menschen Vorbilder im lokalen Umfeld wie beispielsweise Sporttrainer*innen oder Jugendgruppenleiter*innen, in denen sie ihre Lebensrealität repräsentiert sehen.

Beide Expert*innen sind sich einig: Diskriminierende Ideologien müssen durch direkten Austausch zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen Einhalt geboten werden. Hass, Rassismus, Antisemitismus, Ableismus und Sexismus bedeuten Gewalt für direkt Betroffene, doch dagegenzuhalten ist Aufgabe von uns allen.


Illustration: Felipa Racky