Das Einzige, was ihre Essstörung unter Kontrolle halten konnte war das gemeinsame Essen mit Freund*innen, berichtet eine Studentin. In der Pandemie isst sie alleine und das Essen wurde zur gefährlichen Privatangelegenheit.

Essen ist ein essentieller Bestandteil unseres alltäglichen Lebens. Frühstück, Mittag- und Abendessen, ein kleiner Snack zwischendurch, manchmal Brunch oder Lunch mit Freund*innen oder Kolleg*innen, Dinner im Restaurant oder gemeinsames Kochen bei jemandem Zuhause. Wir brauchen Nahrung, um zu überleben und Essen, um funktionieren zu können. Aber wir geben dem Essen seit Jahrhunderten auch eine soziokulturelle Bedeutung und zelebrieren das gemeinsame Speisen im kleinen und großen Kreis zu den unterschiedlichsten Anlässen.

Während Essen für viele das Normalste und Banalste auf der Welt ist, wird es für Einige jedoch zum Spießrutenlauf. Laut der Psychologin Susie Orbach leiden circa drei Viertel aller Frauen an essgestörtem Verhalten – viele entwickeln im Laufe ihres Lebens daraus eine Essstörung. Männer sind im Vergleich deutlich seltener betroffen. Von hundert Patient*innen mit Magersucht sind etwa acht Prozent männlich, mit Bulimie 15 Prozent und mit Binge-Eating-Störung etwa 20 Prozent. Der Geschlechterunterschied ist bei kaum einer anderen Erkrankungen so groß wie bei Essstörungen laut Angaben des Ärzteblattes Online.

Bulimie ist eine meistens unsichtbare und doch eine der häufigsten Essstörungen, die überwiegend Frauen betrifft. Nach Angaben der BZgA sind 13 bis 17 von 1.000 Frauen und ein bis fünf von 1.000 Männern betroffen. Betroffene verheimlichen ihr Leiden nach außen hin erfolgreich, während sie unter den wiederkehrenden, unkontrollierbaren Essanfällen, meist gefolgt von absichtlich herbeigeführtem Erbrechen, leiden. Sie verlernen, nach Hungergefühl zu essen und mit dem Essen aufzuhören, wenn sie satt sind und fangen an, immer häufiger werdenden Fressattacken nachzugehen, diese irgendwann gar zu ritualisieren.

Bulimiker*innen haben ein verschrobenes eigenes Körperbild, ein überschlankes Schönheitsideal und panische Angst zuzunehmen. “Du möchtest dir leckeres Essen nicht entgehen lassen – so fängt es meistens an. Du erbrichst dich, wenn du deiner Meinung nach ‘mal etwas zu viel’ oder ‘das Falsche’ gegessen hast und arbeitest auf eine unerreichbare Traumfigur hin”, erzählt eine betroffene Studentin, die lieber anonym bleiben möchte. Wenn sich Erbrechen immer öfter anfängt zu wiederholen, auf gewisse Weise Ritualcharakter erlangt, übernimmt die Ess-Brech-Sucht immer mehr Kontrolle über den Alltag, Geist und Körper der Betroffenen.

“Du denkst, du hättest deinen Körper überlistet und gönnst dir Kalorienhaltiges, ohne zuzunehmen, da du es später erbrichst. Irgendwann machst du es immer öfter, entwickelst eine Art Automatismus, nach dem Essen aufs Klo zu gehen und dich zu erbrechen. Das Gefühl der anschließenden Leere und Kontrolle gibt zu einem kleinen Teil Selbstsicherheit, während man ansonsten ständig von Selbstzweifeln oder Komplexen geplagt wird”, erzählt sie. “Dich überkommen heimliche Fressanfälle, die sich jedoch gut verbergen lassen, vor allem wenn man allein wohnt. Irgendwann fängst du an sie zu planen, ja, gar zu zelebrieren, sagst Verabredungen und soziale Events ab, gibst Unmengen an Geld für Essen aus oder fängst an hier und da welches zu stehlen, verzehrst es, erbrichst es. Es ist ein Teufelskreis.”

Das Einzige, was dem Essrhythmus von Bulimiker*innen noch einen Hauch Normalität zu geben scheint, sind die gemeinsamen Mahlzeiten mit Freund*innen oder der Familie, wo man sich mit der Essensmenge entsprechend sozialer Codes und Normen zügelt, damit das Umfeld nichts von der Erkrankung mitbekommt. “Auch wenn das Verlangen nie ganz wegging, konnte ich manchmal, vor allem im Urlaub, durch interessante Gespräche und eine unbeschwerte Zeit meinen Drang zu schlingen für einen Abend unterdrücken.”, erzählt die Studentin. Doch diese soziale Komponente von Essen fällt während der Coronavirus-Pandemie größtenteils flach.

Vor allem während des ersten Lockdowns ist Essen zu einer Privatangelegenheit verkommen. Personen, die alleinstehend sind und allein wohnen, fiel es besonders schwer, eine haltgebende Struktur und Kontrolle über das Essverhalten und die Nahrungsmenge beizubehalten. “Mir setzte das Alleinsein psychisch zu und das äußerte sich in immer häufiger werdenden Ess-Brech-Attacken, die mir zumindest ein wenig das Gefühl von Leere nahmen. Als ich deswegen unter Panikattacken zu leiden begann, hab ich mich dazu überwunden, mich an eine Anlaufstelle für Essgestörte in Berlin zu wenden”, berichtet die Studentin. Sie fügt hinzu: “Ich wurde an eine Psychologin verwiesen, die mir innerhalb von zwei Sitzungen eine klassische, tiefsitzende Bulimie diagnostizierte, danach jedoch keine Kapazitäten mehr hatte, mich weiterhin zu therapieren.“

In der Corona-Pandemie hat die Anzahl psychischer Erkrankungen und die Intensität bereits Vorhandener drastisch zugenommen. Suchtberatungen sind unterfinanziert und die ohnehin viel zu geringen Kapazitäten psychologischer Betreuung sind noch weiter geschrumpft, obwohl der Bedarf an Suchtberatung und -therapie kontinuierlich wächst. Menschen, die sonst einigermaßen gut mit ihrer Essstörung leben können, indem sie viel unterwegs sind, Ablenkung suchen und einen strukturierten Tagesablauf haben, sind nun wegen des Lockdowns ihrer Krankheit ausgeliefert. Bei Suchterkrankungen wird häufig zunächst an Alkohol- oder Drogensucht gedacht, jedoch befinden sich auch Menschen mit anderen und teils unsichtbaren Suchtformen in prekären Situationen, denen ebenfalls Aufmerksamkeit und Unterstützung zusteht. Die eigenen vier Wände werden für Suchtkranke ohne psychologische Hilfe zu einem roten Tuch und einer ausweglosen Sackgasse, zum Elend der Isolation.


Dieser Text ist Teil unseres Themenschwerpunktes Mentale Gesundheit. Alle Texte sind hier zu finden.

Wer Hilfe sucht, kann sie hier finden:

Erste Anlaufstelle: https://www.dick-und-duenn-berlin.de/
Psychologische Studierenden-Beratung an der HU: https://www.hu-berlin.de/de/studium/beratung/psyber
Freie Therapieplätze: https://www.therapie.de/psyche/info/