Seit eineinhalb Jahren zeigt die Berliner Schaubühne „Bad Kingdom“ von Regisseur Falk Richter und füllt damit immer noch den Saal. Dabei bekommt man darin wirklich nichts anderes zu sehen als schlechte Szenen. Dass es inhaltlich um die Unmöglichkeit geht, heute gute Kunst zu machen und ein schlechtes Schauspiel nur die performative Konsequenz ist, macht es nicht automatisch gut. Statt sich wirklich an den Bruchlinien unserer Zeit abzuarbeiten, bietet das Stück nur geistloses Gejammer und statt guter Fragmente einen schlechten Aufruf zur Besinnung aufs Ganze.
Kurz vor der Pause, als das Interesse des Publikums schon fast verspielt ist, geht endlich doch ein spürbarer Riss durch die Realität des bad kingdoms: Jule Böwe spielt sich, im Übergang von der Sie- zur Ich-Form, von einer losen Charakterskizze zu einer lebendigen Figur, in die Rolle einer überforderten Drehbuchlektorin, der die sich auf ihrem Schreibtisch stapelnden Skripte nichts mehr über das Leben erzählen und die von ihrem eigenen Leben regelrecht überarbeitet fühlt. Zum Beispiel davon, sich die 117 Sprachnachrichten anzuhören, mit denen gerade jeder einzelne ihrer Geburtstagsgäste abgesagt hat. Durch diese Szene ahnt man endlich, was mit dem ganzen bisherigen Stück eigentlich faul ist: dass es das „Stück als Ganzes“ nämlich nur im Status der Überarbeitung gibt beziehungsweise geben würde. Doch dazu waren anscheinend alle – genau – zu überarbeitet. Oder spielten es sich vor. Vieles an „Bad Kingdom“ kann man mit dieser Logik rechtfertigen und es als eine provokante mimetische Leistung werten, doch insgesamt bleibt das Stück hinter dem zurück, was man „gekonnt schlecht sein“ nennen dürfte.
„Bad Kingdom“ ist vor allem eine Wüste aus Soloauftritten. Das kommt auch daher, dass im bad kingdom vor allem Solisten leben. Im Zentrum stehen ein Filmregisseur und sein Projekt mit dem Titel „71 Fragmente der Einsamkeit“. Darin zu sehen: Zunächst er selbst, wie er besagten Film dreht und parallel mit seiner unerfüllten Partnerschaft hadert. Sein Partner, ein Gitarrist, dem nicht mal mehr eine einzige Komposition gelingt, sodass er auf die originelle Idee kommt, ein Album aus Fragmenten zu veröffentlichen. Und dessen Schwester, eine Konzertpianistin, die zwar gerne anspruchsvollere Stücke spielen würde, was allerdings für ihre Karriere nicht ratsam ist. Was die drei jeweils zu beklagen haben, bleibt oberflächlich und diffus, geradezu bühnenunwürdig. Ein echter Konflikt bleibt aus. Kein Wunder, könnte man sagen, wir befinden uns ja immer noch im Film eines irgendwie blockierten Autor-Regisseurs. Der unsichtbare Gegner der Figuren ist das Ganze, schon klar. Das Stück, in dem alle gefangen sind. Aber was ist das Ganze? Dem Stück geht jeder Wille ab, es auf einen Begriff zu bringen und so bleibt der Text insgesamt witzlos. Vor allem aber gibt es keine ernsthaften Akte der Verweigerung, an denen sich etwa zeigen könnte, was hier schiefläuft. Nur einmal gibt es ein kurzes Aufbegehren, als der Gitarrist sich unzufrieden gibt mit der Rolle, die er im Film seines Partners spielen soll.
Es scheint, als wollte sich der Autor, in diesem Fall Falk Richter, in all seinen Figuren nur selbst bespiegeln. Hat er mit dem (selbst so genannten) Mittfünfziger, der „Bad Kingdom“ im Prolog auf das Thema Einsamkeit einstimmt und über all die Konjunktive lamentiert, die jetzt sein Leben ausmachen, ein Selbstportrait geschaffen? Jedenfalls steht der Regisseur nach seinem großen Erfolg mit „The Silence“ (2023), einer dezidiert autofiktionalen Produktion, in der er sich selbst und seine eigene Mutter auf die Bühne holte, unter einem gewissen Verdacht. Doch wie auch immer das Autor-Ich geartet sein sollte, der Weg in die Selbstversenkung verfährt sich hier völlig und wird zu einem einzigen endlosen Jammerakt. Vielleicht vor allem darum, weil die Autorfigur, obwohl sie irgendwie omnipräsent ist, völlig unterbestimmt bleibt und ihr so weder Kritik noch Selbstkritik überhaupt angetragen werden kann. Soll das so? Das Kostüm (Andy Besuch) jedenfalls spielt dieses faule Versteckspiel mit: Eine unförmige Perücke verbirgt das halbe Gesicht des Regisseurs im Stück. Das provoziert nur so lange, bis es nur noch langweilt.
Dass Innen und Außen, Arbeit und Privates, Fakt und Fake, Kunst und Leben zunehmend verschwimmen, ist nun längst keine neue Diagnose mehr. Aber in „Bad Kingdom“ wird nicht der leiseste Versuch unternommen, das Entstehen dieser neuen Räume zu erforschen. Das Bühnenbild (Katrin Hoffmann) ist kein Bühnenbild, sondern Dekoration. Eine langweilige Burg-Kulisse, unmotivierte Pflanzen an den Rändern, eine halbherzig theatrale Ausschrei-Plattform für ein oder zwei Solos. Dazu drei wahllos angebrachte Screens, auf denen immer wieder die „71 Fragmente der Einsamkeit“ laufen oder eine Nebenfigur im YouTube-Style Fakten aus der Einsamkeitsforschung vorträgt. Digitale Strukturen und ihr Einfluss auf die Einsamkeitsepidemie werden überhaupt nicht befragt und wirken befremdlich boomerhaft.
Aber Richters mangelhafte Auseinandersetzung mit Äußerlichkeiten hat einen Grund: Er sucht sie nicht. Für ihn liegt das Problem „innen“. Das wird besonders dann deutlich, wenn er die Figuren in „71 Fragmente der Einsamkeit“ – ein Film, der übrigens fast nur aus Sexszenen besteht – immer wieder beklagen lässt, dass sich der Partner „nur an seinem Körper abarbeitet“. Der Regisseur im Stück scheint regelrecht besessen zu sein von den Szenen beziehungsloser Beziehungen, von denen er eine nach der anderen abdreht – ohne dass ihm dazu mehr einfällt als besagte Klage über bloße Körperlichkeit. Der Regisseur von „Bad Kingdom“ geht dabei kaum einen Schritt über seine Figur hinaus: Anstatt Sozialforschung zu betreiben, dienen ihm alle Szenen schließlich nur für einen Besinnungsappell.
Und den gibt es am Ende – es kommt einer Kapitulation des Theaters und seiner Mittel gleich – in Form eines Referats. Als die Paartherapeutin, die die Beziehung des Regisseurs im Stück und seines Freundes therapieren soll, mit ihrem Latein am Ende ist, steigt sie – schultheatermäßig im Modus „Jetzt rede ich!“ – aus ihrer Rolle aus und erklärt Angst und Ohnmacht des modernen Menschen mit der Theorie der „psychotischen Gesellschaft“. Dabei hat sich Richter in dem gleichnamigen Buch von Ariadne von Schirach (2019) bedient, die darin zur Achtung vor dem „Leben“, einer für sie geheimnisvollen heiligen Ganzheit, auffordert – jenseits der aus ihrer Sicht problematischen Tradition europäischen Denkens. Auch Richter scheint es nur darum zu gehen, wieder „ins Spüren“ und dadurch zu sich selbst zu kommen. Wo das „Leben“ und das „Selbst“ so völlig unhistorisch als Referenz genommen werden, als wäre eine Beziehung zu „sich“ unter allen äußeren Umständen gleichermaßen möglich, hört allerdings Gesellschaftskritik auf. Dabei müsste man sich eigentlich fragen, ob der Imperativ des Selbstseins, der Überwindung der Entfremdung, nicht nur nicht individuell vollbracht werden kann, sondern etwa in Form von gesundheitsbewusster Selbstoptimierung, spiritueller Dogmatik oder autofiktionaler Entblößung zu einer noch stärkeren Kontrolle und Herrschaft über das „Leben“ führt. Das wäre vielleicht das Drama gewesen, das Falk Richter nicht sehen konnte oder wollte.
Foto: Gianmarco Bresadola.