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Erasmus bei den Sch’tis

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Die meisten Student*innen freuen sich auf ihr Auslandssemester. Unser Autor hat vor seinem Erasmusaufenthalt anfangs eher gemischte Gefühle. Wie das Semester in Frankreich trotzdem zu einer tollen Erfahrung werden kann, erzählt er uns in seiner Kolumne.

Fröstelnd sitze ich im Januar 2025 am Schreibtisch meines Kreuzberger WG-Zimmers. Im kalten, blauen Licht meines Computerbildschirms klicke ich mich durch Bilder von Toulouse und träume vom mediterranen Klima Südfrankreichs und von warmen Croissants. Einmal im Leben dem grauen Berliner Winter entkommen, das wär’s.

Über Nacht schustere ich in letzter Minute vor Ablauf der Frist eine hochtrabende Bewerbung für einen Erasmus Aufenthalt im Süden zusammen. Dafür recycle ich das alte Motivationsschreiben meines Auslandssemesters in Paris. Wird schon schiefgehen, denke ich mir.

Tatsächlich kommt alles anders. Wenige Wochen später erhalte ich für meine Erstwahl eine Absage. Statt für das ewig sonnige Toulouse bekomme ich eine Zusage für meine Zweitwahl. Ich soll in den eisigen Norden, nach Lille. Na toll! Ich werde also mein Schicksal mit dem gelangweilten Postboten Philippe teilen, der im französischen Filmklassiker Willkommen bei den Sch’tis aus dem Süden in die graue, postindustrielle Gegend im Norden strafversetzt wird.

Als er mit seinem Auto die Grenze der Region Nord-Pas-de-Calais passiert, beginnt es in Strömen zu regnen. Ungefähr so fühle ich mich auch nach meiner Absage für Toulouse. Der nächste Winter wird wohl genauso grau wie in Berlin.

Le Nord: Zwischen Klischees, Bier und Pommes

Selbstverständlich schaue ich mir den Film kurz darauf nochmal an, um mich auf Lille einzustimmen. Schnell geht mir die übertriebene Larmoyanz des Hauptdarstellers gehörig auf die Nerven. Eine gefühlte Ewigkeit braucht der störrische Mann, um aufzutauen und endlich die Warmherzigkeit der Sch‘tis zu erkennen. Die empfangen ihn von Anfang an herzlich und trotzen allen Vorurteilen. Meine Lektion: Bloß nicht den gleichen Fehler wie Philippe begehen, und sich in Selbstmitleid und falschen Klischees suhlen.

Beginnen wir damit, dass es die Region Nord-Pas-de-Calais inzwischen gar nicht mehr gibt. Bei einer Gebietsreform wurde die nördlichste Region Frankreichs im Jahr 2016 mit der Picardie fusioniert, heute trägt sie den neuen Namen Hauts-de-France, „Höhen Frankreichs“ auf deutsch. Indem Kompetenzen in die Regionen verlagert wurden, sollten bei der Reform Metropolen wie Lille als administrative Zentren gestärkt werden. Ich merke mir: ‚Lille wird irgendwie wichtiger‘. Klingt schonmal gut.

Der Norden ist bekannt für deftige Fritten, starkes Bier, rostrote Backsteinbauten und den Racing Club Lens. Ein Fußballverein mit legendärer Fankultur, der auch heute noch die lokale Arbeiterklasse vereint. Der RC Lens schreit SUBKULTUR! Sogar Pariser Studis, die nichts mit der Region zu tun haben und in linken Kneipen ihre Zigaretten drehen, bekennen sich nach ein paar Bier als Fans.

Zeit für ein positives Reframing

Am bekanntesten ist die Region aber sicherlich für ihren besonderen Dialekt. Sch’ti nennt man nicht nur die Einwohner*innen, sondern auch das genuschelte Französisch, das die Menschen in der Gegend an der belgischen Grenze sprechen. Der Klang erinnert mich als deutschen Muttersprachler an die Intonation niederländischer Menschen, die deutsch sprechen. Während ich Sch’ti höre, sehe ich Arjen Robben und Sylvie Meis vor meinem geistigen Auge.

Ich brauche ein positives Reframing. Als jemand, der die französische Sprache und Dialekte liebt, werde ich dort die Möglichkeit haben, mir in meinem Auslandssemester einen kultigen Regionaldialekt anzueignen.

Aus einem Jahr Paris im Bachelor ist bisher nur schnödes, hochgestochenes Standardfranzösisch hängengeblieben. Das könnte sich nun ändern. Ich sehe mich schon an illustren Stammtischen sitzen und in exzellentem Sch’ti über lokale Belanglosigkeiten fachsimpeln. Ich habe ein neues Ziel vor Augen.

Rendezvous mit der Realität

Etwa einen Monat später habe ich mich mit meinem Auslandssemester im Norden arrangiert, inzwischen freue ich mich sehr auf Lille. Meine Enttäuschung scheint passé. Bevor ich mir die Stadt ansehe, mache ich einen Zwischenstopp in Paris.

Bei einem Bier am Canal Saint Martin erzähle ich meinem französischen Freund von den Neuigkeiten und meinem positiven Reframing. Er grinst mich breit durch seinen Bart an und nickt mir zu: „Ah ouais, le ch’timi!“ Wir lachen beide. „Hab‘ ich dir eigentlich schon mal erzählt, dass meine Mutter aus der Region kommt?“, fügt er schnell hinzu.

„Waaas, das wusste ich nicht?!“ sage ich und tanze innerlich vor Freude. Ha, endlich jemand, der sich auskennt und mir mehr erzählen kann. Triumphierend nippe ich an meinem Bier und spitze die Ohren. Mein Freund erklärt mir: „Lille ist sehr cool und eine der größten Studi Städte in Frankreich. Du wirst da sicher eine großartige Zeit haben. Aber Sch‘ti lernen? Weiß ich nicht, ist halt ‘ne Großstadt. Die Leute sprechen da eigentlich ganz normales Französisch. Für richtiges Sch’ti müsstest du wahrscheinlich eher aufs Land…“


Illustration: Lucia Maluga