Knapp drei Jahre lang pendelte unser Autor so gut wie jeden Tag zwischen Marzahn und Mitte. Was Berlins östlichsten Bezirk so besonders macht und welche Überraschungen er bereithält, beschreibt er hier.

Vor ein paar Jahren wurde ich in der Friedrichstraße von einem Fernsehteam zum Thema Einkaufen interviewt. Neben meinen präferierten Supermarktketten interessierte die Reporter*innen auch mein Wohnort. Als ich auf die entsprechende Frage mit „Marzahn” antwortete, bekam ich als Reaktion ein beinahe mitleidiges „Ah ja”, das wohl nicht nur meiner langen Fahrtzeit nach Hause galt.

Vermutlich erweckt die Erwähnung von Berlins östlichem Stadtrand bei den wenigsten auf Anhieb positive Assoziationen. Es wäre zumindest etwas vermessen zu behaupten, dass der Bezirk keinen spürbar schlechteren Ruf als Pankow oder Schöneberg hätte. Dabei gibt es gute Gründe anzunehmen, dass die Anzahl an Meinungen die der persönlichen Erfahrungen wie so oft um ein Vielfaches übersteigt. Schließlich verirren sich Schöneberger*innen eher selten in Europas ehemals größter Plattenbausiedlung, sofern sie kein nennenswertes Interesse an Botanik haben und die Zeit und Lust aufbringen, zu den Gärten der Welt zu pilgern.

Zwischen Zola und Platte

Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass Marzahn anders tickt als der Rest Berlins. Zwar hat jeder Bezirk, jeder Kiez seinen ganz individuellen Charakter. Wer aber das erste Mal mit der S7 den Bahnhof Friedrichsfelde-Ost verlässt und nach einer ruckeligen Fahrt durch ein erstaunlich grünes Stück Berlin schließlich im Bahnhof Springpfuhl eintrifft, dürfte ganz wertfrei einen atmosphärischen Unterschied zum allseits begehrten Innenstadtring feststellen. Das etwas raue Ambiente dürfte den meisten Neulingen ins Auge stechen.

Was einen beim ersten Mal durchaus einschüchtern kann, hat jedoch bereits nach einer kurzen Eingewöhnungszeit das Potenzial, von einer ganz anderen Seite betrachtet zu werden. So habe ich recht schnell Gefallen am Kontrast gefunden, vormittags im aufwendig dekorierten Uni-Café Émile Zolas L‘Assomoir nach Hereditätsnarrativen zu durchforsten und nachmittags entspannt durch den Plattendschungel zu spazieren. Wer sich also nach Ausgleich zur Monotonie des Campusalltags sehnt und keine Berührungsängste mit rustikaler Sowjetarchitektur hat, kann hier durchaus auf den Geschmack kommen.

Marzahner Pragmatismus

Es ist ein bodenständiger, grundsympathischer und gelegentlich unkonventioneller Pragmatismus, der Marzahn ausmacht – im Großen wie im Kleinen. Die meisten Menschen, auf die man hier trifft, pflegen eine unbürokratische und direkte Art, die nicht als Unfreundlichkeit missinterpretiert werden darf. Wenn etwa die Kassiererin ungeduldig darauf hinweist, das Bargeld doch bitte direkt in die Hand zu geben, anstatt es vorher abzulegen, ist das nicht als persönlicher Angriff zu verstehen, sondern lediglich als eine unmissverständliche Aufforderung zu effizienterem Verhalten. Wer also praktisch veranlagt ist und gern schnell zum Punkt kommt, wird es leicht haben, sich zu integrieren.

Diese pragmatische Lebenseinstellung wird auch an anderen Stellen sichtbar, beispielsweise auf der Speisekarte. So bietet der lokale Italiener je nach Saison auch gern mal Spargel mit Sauce Hollandaise und Schnitzel an. Funktionalität hat hier oberste Priorität, was sich nicht zuletzt an der meist großzügigen Straßenbreite oder an den umfangreichen Parkmöglichkeiten zeigt. Als Mieter*in verzichtet man darüber hinaus gern auf irrational hohe Decken oder Stuck an den Wänden, wenn man stattdessen einen Balkon mit der Größe eines durchschnittlichen Berliner WG-Zimmers geboten bekommt. Wozu Prunk und Protz, wenn es auch praktikabel geht?

Nicht nur das gastronomische Angebot und die großzügigen Balkone sorgen in Marzahn für Überraschungen, sondern gelegentlich auch die Wahlergebnisse. Am Tag nach der Abgeordnetenhauswahl 2023 recherchierte ich aus Neugier die Ergebnisse meines Wahllokals. Dabei fiel mir neben dem bedauerlicherweise überproportional starken Abschneiden der Rechtsextremen auf, dass die damals im Bund mitregierenden Grünen von der sonst unter „ferner liefen” gelisteten Tierschutzpartei überflügelt wurden. Ob das einfach ein Ausdruck von Skepsis gegenüber etablierten Parteien ist oder Marzahner*innen eine besondere Verbundenheit zur Natur pflegen, ist fraglich. Eine unbestreitbare Tatsache ist jedoch, dass der Bezirk viel mehr Natur zu bieten hat, als so manche*r erwarten würde. Wem die nicht ganz so hohe Decke der Einzimmerwohnung doch mal auf den Kopf fallen sollte, kann nach ein paar Tritten in die Pedale die schottischen Hochlandrinder im Wuhletal bestaunen oder die brandenburgische Provinz erkunden.

Herausforderungen eines Bezirks mit Potenzial

Nun wäre es bei der ganzen Romantisierung unehrlich, jene Probleme zu verschweigen, mit denen der Bezirk und seine Bewohner*innen zu kämpfen haben.

Marzahn kann einsam machen. Die Anonymität, die oft Berlin als Ganzem nachgesagt wird, nimmt hier ein besonderes Ausmaß an. Es genügen vermutlich zwei Hände, um abzuzählen, wie vielen der mindestens 40 Parteien in meinem Wohnhaus ich im Laufe von drei Jahren persönlich begegnet bin. Oft habe ich mich gefragt, wer wohl sieben Stockwerke tiefer wohnt und was dort gerade vor sich gehen könnte. Oder wer der mysteriöse Mann ist, der mich vorhin im Aufzug mit einem flüchtigen „Tach” grüßte.

Auch gesellschaftlich sind die Baustellen nicht zu übersehen. Sei es der strukturelle Rechtsextremismus, der immer wieder zu tätlichen Angriffen führt, oder die hohe Kinderarmutsquote, die vielen Familien Chancen auf soziale Teilhabe verwehrt. Der Berliner Senat täte daher gut daran, im Sinne der gesamten Stadt die Entwicklung dieses Bezirks beherzt zu unterstützen. Vielleicht wird dann aus dem mitleidigen „Ah ja” künftig ein Interessiertes.


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