Plötzlich ist sie da, die Angst. Du merkst, wie sich Panik in dir ausbreitet, willst nur noch nach Hause. In Deutschland sind circa vier Prozent der Menschen von Agoraphobie betroffen. Wie es ist, wenn die Angst vor einer fehlenden Fluchtmöglichkeit die Kontrolle über das eigene Leben übernimmt. Unsere Autorin berichtet.

Es ist einer der ersten warmen Tage im Jahr. Ich bin zum Eisessen verabredet, eigentlich eine ganz normale, nicht sonderlich anstrengende Aktivität. Wäre da nicht die Angst. Die Angst, zu stolpern und hinzufallen. Die Angst vor der nächsten Migräneattacke. Die Angst, mich in der Öffentlichkeit zu übergeben. Die Angst, es nicht mehr heim zu schaffen. Die Angst, die Kontrolle zu verlieren. Kontrolle über all das, was eh nicht kontrollierbar ist, zum Beispiel, wann die nächste Migräneattacke kommt. Dieses riesige Monster namens Agoraphobie legt sich wie ein Schatten über so gut wie alle Bereiche meines Lebens. Allein in Deutschland gibt es circa drei Millionen Menschen, denen es wie mir geht. Dazu zählen auch Studierende, wie die Psychologin Maria Zimmermann bestätigt. Sie ist in der Psychologischen Beratung der Humboldt-Universität zu Berlin tätig.

Angst vor der Angst

Agoraphobie ist laut Zimmermann „eine sehr intensive Angst vor Situationen, in denen man sich ausgeliefert fühlt“. Sie erklärt, die Angst richte sich dabei oft nicht auf die eigentliche Situation, sondern auf mögliche Angstreaktionen, einen Kontrollverlust oder Panikattacken. Im Studienalltag könne sich das etwa durch eine starke innere Anspannung beim Bahnfahren, in Vorlesungen oder bei Prüfungen äußern. 

Für mich bedeutet Agoraphobie, jeden Tag wirklich alles zu überdenken. Spontan bin ich eher selten. Und wenn, dann sind es auch nie die spontanen Pläne der anderen, an denen ich teilnehme, höchstens meine eigenen. Richtig erklären kann ich das nicht. Es fühlt sich irgendwie sicherer an, mich spontan mit mir selbst – und meiner Angst – zu verabreden als mit anderen. Da weiß ich mehr, was mich erwartet. Ich habe den Plan ja schließlich selbst gemacht. Auch im Studium hat mich die Angst schon oft auf die Probe gestellt: Im Hörsaal am Gang sitzen und auch in den Seminaren darauf achten, einen Platz zu erwischen, der so gelegen ist, dass eine einfache und schnelle Flucht möglich wäre. Wenn die beschriebenen Plätze bereits belegt waren, wirkte sich das auf meine Konzentration aus.

Jeden Tag sehe ich mich mit Dingen konfrontiert, die für viele ganz normal sind. Lange Zeit war meine größte Herausforderung, über Straßen zu gehen. Das wäre auch immer noch so, wenn ich mich noch in Situationen begeben würde, in denen ich eine Straße überqueren müsste. Doch das tue ich schon lange nicht mehr. Meine Einkäufe lasse ich mir liefern, Seminare habe ich aktuell nicht mehr, da ich meine Masterarbeit schreibe, und wenn ich doch mal raus muss, nehme ich ein Uber. 

Fütter mich!

Allerdings sind diese Verhaltensweisen kontraproduktiv, sagt Zimmermann. Sie erklärt, dass eine Vermeidung von Situationen, die angstbehaftet sind, zu einer kurzfristigen Erleichterung führe. Die Vermeidung könne die Angst auf Dauer jedoch verschlimmern.

Dadurch, dass ich aktuell so sehr in Vermeidungsmuster zurückfalle, füttere ich die Angst. Was mir vorher leicht gefallen ist, fällt mir jetzt unendlich schwer. Aktivitäten, die es nicht einmal erfordern, das Haus zu verlassen, wie kochen, das Bett beziehen oder duschen, überfordern mich oft. Es sind Gedanken wie „Wenn einmal die Nudeln im Topf sind, dann gibt es kein Zurück mehr“ oder „Wenn du deine Haare einshampooniert hast, kannst du nicht ohne Weiteres die Dusche verlassen“, die mir Angst machen.

Denn was passiert, wenn ich in solch einer Situation Migräne bekomme? Was, wenn genau dann der starke Schwindel kommt, wenn gerade die Nudeln kochen, ich mit Shampoo in den Haaren unter der Dusche stehe und ich eben das Bett abgezogen habe? Da der einzige Ausweg aus der Migräne für mich ist, mich hinzulegen und zu schlafen, ist das ein furchtbarer, angstmachender Gedanke – auch wenn das beschriebene Szenario höchst unwahrscheinlich ist. Dass es in den meisten Fällen eine Lösung gibt, ist für mich schwer zu verstehen.

Viele Wege führen zur Angst

Zimmermann erklärt, dass Agoraphobie oft multifaktoriell bedingt ist. Genetische Faktoren, ein besonders gut ausgeprägtes Körpergefühl oder aktuelle physische und psychische Belastungen spielen dabei häufig eine Rolle. Auch Lernerfahrungen während des Studiums können zur Entwicklung einer Agoraphobie beitragen: „Manche Studierende berichten, dass alles mit einer Panikattacke in der Bahn oder im Hörsaal begonnen hat. Andere vermeiden bestimmte Situationen über längere Zeit – und merken irgendwann, dass die Angst größer geworden ist“, so Zimmermann

Vermeidung ist auf Dauer keine Lösung, da sich die Symptome dann nur verschlimmern. Was aber stattdessen tun? Laut Zimmermann würden viele Student*innen zunächst versuchen, allein mit der Angst zurechtzukommen, oft aus Scham oder Unsicherheit. Das sei jedoch nicht immer der beste Weg. Eine erste Anlaufstelle kann die psychologische Beratung der HU bieten. Allerdings ersetzt sie keine Therapie.

Zimmermann nennt etwa die kognitive Verhaltenstherapie als wirksames Mittel zur Behandlung von Agoraphobie. Dort werde gemeinsam mit der betroffenen Person herausgearbeitet, welche Gedanken und Verhaltensmuster mit der Angst zusammenhängen. Zusätzlich sei ein zentrales Element innerhalb der Therapie die sogenannte Exposition. Dabei begibt man sich gezielt und in Begleitung oder durch Unterstützung von Psychotherapeut*innen in angstauslösende Situationen, um korrigierende Erfahrungen zu machen. Auch Dinge wie der gegenseitige Austausch mit anderen, kleine Routinen im Alltag und Entspannungsverfahren können unterstützend bei der Bewältigung von Agoraphobie wirken.

Nichts als Gedanken

Mir hat in letzter Zeit sehr geholfen, mir vorzustellen, was das Schlimmste ist, was passieren könnte. Das ist in meinem Fall eigentlich immer eine Migräneattacke. Jedoch bringt es mir nichts, diesen Gedanken abstrakt zu denken. Ich muss situationsabhängig denken. Ich war letztens mit meinem Vater und meiner Oma verabredet. Ich sollte ihr helfen, ihr neues Handy einzurichten. Dadurch war ich zusätzlich angespannt. Es durfte nichts schiefgehen.

Doch was war in dieser Situation das Schlimmste, das hätte passieren können? Ich hätte Migräne bekommen können und mein Vater hätte mich mit dem Auto wieder nach Hause gefahren. Ist nicht passiert. Dieses Gedankenexperiment lässt sich beliebig variieren. Denn tatsächlich gibt es nur äußerst wenige Situationen, aus denen man wahrhaftig nicht mehr herauskommt. Mit positivem Denken allein ist es natürlich nicht getan.

Als ich zum Eisessen verabredet war, hatte ich solche Strategien noch nicht. Innerhalb kürzester Zeit verspürte ich Angst. Mir wurde schwindelig, ich fühlte mich unsicher in meinem Körper und wollte nach Hause. So sind schon viele Verabredungen geendet. Andere wurden bereits vorher abgesagt. Agoraphobie kann sehr isolierend sein. Der Wunsch nach Verbindung ist stark. Doch die Angst eben auch. Ein Lichtblick: Im Herbst beginne ich eine neue Therapie, der ich hoffnungsvoll entgegenblicke. „Veränderung braucht Zeit – und manchmal auch Mut, aber sie ist möglich, Schritt für Schritt“, sagt Zimmermann.


Illustration: Lucia Maluga.